Galgenfrist für Entschädigung
Ehemalige sowjetische Kriegsgefangene können nicht länger warten.
Deutschland hat sich zur Entschädigung noch lebender sowjetischer Kriegsgefangener entschlossen. Ihre Zahl ist auf ein paar tausend geschrumpft, umso schneller muss es nun gehen.
Die Fachleute der Linksfraktion scheinen noch immer ein wenig überrascht. Dass die Koalition eine Entschädigung ehemaliger sowjetischer Kriegsgefangener nach einer Expertenanhörung, aber ohne weitere größeren Debatten in den Nachtragshaushalt einstellte, hatten sie, die seit Jahren erfolglos für genau diese Entschädigung streiten, eigentlich nicht erwartet. Am 20. Mai war dies beinahe lautlos geschehen, zehn Millionen Euro sind für die ehemaligen Kriegsgefangenen nunmehr vorgesehen.
Einerseits eine Bestätigung für jahrelanges, zum Teil belächeltes Mühen, dem sich außer der LINKEN auch zahllose Akteure der Zivilgesellschaft verschrieben hatten. Andererseits eine Entscheidung, die reichlich spät kommt. Von den drei Millionen überlebenden Kriegsgefangenen gibt es heute nur noch dreioder viertausend. »Jeden Tag sterben Anspruchsberechtigte«, mahnte Ulla Jelpke, innenpolitische Sprecherin der Fraktion bei einem Fachgespräch ihrer Fraktion am Mittwochabend.
Viele Engagierte der Zivilgesellschaft hatten sich hierzu eingefunden, die dieses Anliegen schon lange unterstützen. Der Verein KontakteKontaktij e.V. ist so ein Beispiel. Quasi in Eigenregie zahlte dieser Verein tausenden Kriegsgefangenen je 300 Euro aus, eine Summe von insgesamt mittlerweile 3,7 Millionen Euro, die allein aus Spenden aufgebracht wurden. Die etwa in der Dokumentationsstätte der Stiftung sächsische Gedenkstätten gesammelten Daten sollten bei der Umsetzung des Entschädigungsprogramms genutzt werden, um möglichst wenig Zeit zu verlieren – darüber sind sich die Akteure einig. Dabei ist bisher nicht geklärt, welche Behörde die Auszahlungen übernimmt, vor denen noch die Erfassung der Berechtigten steht.
Die Unterstützer treibt das Wissen um, welches mehrfache Unrecht den Betroffenen bisher geschah. Viele Überlebende hatten sich mit einem Antrag an die Stiftung Erinnerung, Verantwortung, Zukunft (EVZ) gewandt, die für die Entschädigung osteuropäischer Zwangsarbeiter ver- antwortlich war. Sie erhielten in der Regel die abweisende Antwort: »Kriegsgefangenschaft begründet keine Anspruchsberechtigung«.
Nach den Juden bilden die sowjetischen Kriegsgefangenen die zweitgrößte Naziopfergruppe. Von den 5,7 Millionen Sowjetsoldaten, die in die Hände der Deutschen Wehrmacht fielen, kamen 3,3 Millionen in den Ar- beits- und Vernichtungslagern des Naziregimes ums Leben. Der Historiker Hannes Heer spricht vom zweiten Genozid der Nazis. Sowjetische Soldaten galten als Untermenschen und waren von der Wehrmacht außerhalb der Regeln »normaler Kriegsführung« gestellt. Heer war Leiter der in den 90er Jahren heftig umstrittenen Ausstellung »Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941 – 1944«, die mit dem Bild des unschuldigen Deutschen im Nazireich aufräumte und sich deshalb heftiger politischer Angriffe erwehren musste. Heer macht auf die Rede des Bundespräsidenten aufmerksam, in der dieser Anfang Mai das Schicksal der sowjetischen Kriegsgefangenen zum Thema machte. Diese Opfer des Vernichtungskrieges stünden bis heute in Deutschland in einem »Erinnerungsschatten«, hatte Joachim Gauck gesagt. Hannes Heer möchte diese willkommenen Worte künftig als »Trittsteine« für einen angemessenen Umgang mit der Geschichte nutzen.
Für Jan Korte, Fraktionsvizevorsitzender der LINKEN, ist eine Geste gegenüber den Kriegsgefangenen ebenso wichtig wie die Auszahlung der 2500 Euro, um die es für den Einzelnen geht. Jelpke hält eine Resolution des Bundestages für eine Variante. Auch Günter Saathoff, Leiter der Stiftung EVZ, wirbt für eine Form, die von den Betroffenen als würdig empfunden wird. Darüber hinaus fordern Jelpke und Korte einen zentralen Gedenkort für die sowjetischen Kriegsgefangenen. Er sei auch deshalb wichtig, so Korte, weil diese Opfergruppe vielfach auch in der eigenen Heimat keine Rehabilitierung erfahren habe.
Rund 60 Prozent der Rotarmisten in Kriegsgefangenschaft starben. 97 Prozent der westalliierten Kriegsgefangene überlebten.