Behandelt wie Erwachsene
Auf Druck der Länder werden künftig auch junge unbegleitete Flüchtlinge bundesweit verteilt. Gut für einige Städte, schlecht für das Kindeswohl
Immer mehr minderjährige Flüchtlinge erreichen ohne Angehörige die Bundesrepublik. Nach einem neuen Modell ist ihre Odyssee dann nicht zu Ende.
Während erwachsene Asylbewerber und Familien nach einem festgelegten Schlüssel auf die 16 Bundesländer verteilt werden, wird minderjährigen Flüchtlingen, die ohne Eltern nach Deutschland kommen, etwas Ruhe gegönnt, zumindest in der Regel: Sie bleiben dort, wo sie sich zuerst melden oder aufgegriffen werden. Meist sind das Großstädte entlang der Hauptreiserouten wie Hamburg oder München. Doch die klagen über untragbare Belastungen durch die wachsende Zahl junger Flüchtlinge und machen Druck, dass andere Länder ebenfalls Verantwortung übernehmen. Familienministerin Ma- nuela Schwesig (SPD) hat deshalb einen Gesetzentwurf auf den Weg gebracht, wonach auch Minderjährige künftig nach festgelegten Quoten auf die einzelnen Bundesländer verteilt werden. Der Referentenentwurf wurde Anfang Juni an Verbände geschickt. Bis Ende des Monats müssen sie ihre Stellungnahmen abgeben. Im Herbst soll die Neuregelung verabschiedet werden, die, wie es heißt, auch im Interesse des Kindeswohls sei.
Verbände, die sich für die Rechte minderjähriger Flüchtlinge einsetzen, bezweifeln das. Der gravierendste Einwand ist ein grundsätzlicher: »Das Gesetz ist nicht an den Bedürfnissen der Kinder und Jugendlichen orientiert, sondern ausschließlich an denen der Bundesländer, die Belastungen und Kosten abwehren wollen«, kritisiert Niels Espenhorst vom Bundesfachverband »Unbegleitete Minderjährige Flüchtlinge«.
Seit Jahren kommen mehr Minderjährige ohne Angehörige in Deutschland an. Sie stammen aus Afghanistan, Syrien, Somalia oder Eritrea. Oft sind sie seit Monaten oder gar Jahren auf der Flucht vor Krieg, Zwangsheirat oder einer Rekrutierung als Kindersoldat. Sie haben ihre Familien verloren, sind orientierungslos und traumatisiert. 2014 stellten laut dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) 4399 unbegleitete Minderjährige einen Asylantrag, 2008 waren es noch 763. Insgesamt sollen es 18 000 Flüchtlinge sein, die in der Obhut der Jugendämter, aber auch bei Pflegeeltern, in Wohnheimen und anderen Einrichtungen untergebracht sind.
Espenhorst sieht durchaus, dass manche Städte besonders belastet sind. Andererseits sei es dort in den vergangenen zehn Jahren mit viel Anstrengung gelungen, die Flüchtlinge in das System der Jugendhilfe zu integ- rieren. »Das wird jetzt alles entsorgt.« Schon in wenigen Monaten werden junge Flüchtlinge in die Hände von komplett unvorbereiteten Kommunen gegeben werden. »Für die Mehrheit wird sich die ohnehin prekäre Situation verschlechtern«, warnt der Experte.
Bei der geplanten bundesweiten Verteilung würden Jugendliche künftig zunächst nur vorläufig von einem Jugendamt in Obhut genommen werden, um zu prüfen, ob sie bleiben können oder »zu viel« sind. Mitreden dürfen die Betroffenen dabei nicht. Widerspruch ist nicht vorgesehen. Aus Sicht von Espenhorst könnte das verheerende Folgen haben. Wo Vertrauen aufgebaut, ein stabiles Umfeld geboten werden müsste, wird über ihren Kopf hinweg entschieden. »Unbekannte Behörden signalisieren ihnen nur, dass nicht klar ist, was mit ihnen passiert.« Das nötige Gefühl der Sicherheit werde so nicht vermittelt, ist Espenhorst überzeugt.
Ginge es um den Schutz der jungen Leute, müsste man aus Sicht der Kritiker auch auf die medizinische Altersabschätzung verzichten. Dabei werden oft Röntgenaufnahmen von Hand- und Kieferknochen vorgenommen. Bei traumatisierten Kindern könne diese Behandlung das Leiden verstärken, da sich die Betroffenen erneut als ohnmächtige Opfer erlebten, wie das Kinderhilfswerk terre des hommes am Freitag warnte. Mit der geplanten Neuregelung des Verfahrens sollen diese Altersabschätzungen sogar zwei Mal stattfinden: Einmal beim Jugendamt, das den Flüchtling abgeben will, und dann noch einmal bei der Behörde, die in Zukunft zuständig sein soll. Bürokratischer Streit ist absehbar. Hat die erste Instanz ein Interesse, die Minderjährigkeit festzustellen, hat die andere eines, das Alter zu bestreiten. Die Leidtragenden werden die jungen Flüchtlinge sein.