Flucht nach Lateinamerika
Viele Südeuropäer versuchen, der Eurokrise durch Auswanderung zu entfliehen
Seit dem Jahr 2010 sind deutlich mehr EU-Bürger nach Lateinamerika und in die Karibik ausgewandert, als Menschen von dort nach Europa kamen.
Einst war die »Alte Welt« Europa das gesegnete Ziel für Menschen aus Staaten Lateinamerikas und der Karibik (LAK), doch der Migrationsstrom hat sich umgekehrt. 2010 emigrierten erstmals mehr Menschen aus der Europäischen Union in die LAK-Staaten, als im Gegenzug Einwanderer von dort in die EU kamen. Das hat die nichtstaatliche Organisation für Migration (IOM) in einer umfassenden Studie festgestellt. Sie zeigt, dass sich die Schere weiter öffnet. Im Jahr 2012 (neuere Daten liegen nicht vor) emigrierten 181 166 Europäer in die »Neue Welt«, 119 000 kamen umgekehrt aus der Region in die EU.
Das ist ein Ergebnis einer 231-seitigen IOM-Studie, die Migrationsdynamiken untersucht. Die stellvertretende Generaldirektorin der Organisation, Laura Thompson, resümiert gegenüber »nd«: »In den letzten Jahren haben sich die Migrationsströme zwischen den Länder der LAK und der EU verändert, das spiegelt einmal mehr die sich verändernden sozioökonomischen Realitäten wieder.« Thompson sieht darin nicht nur einen »natürlichen Prozess«, sondern auch ein »Werkzeug«. Regierungen sollten Migrationsbewegungen fördern, die auch eine »Antwort auf die strukturelle und ökonomische Krise« sein könnten.
Sie bremste, so Thompson, deutlich die Einwanderung aus Lateinamerika. Erreichte 2007 die Zahl der Einwanderer aus Lateinamerika mit 376 000 einen Höchststand, hat sie sich wegen der gestiegenen Arbeitslosigkeit in Europas Süden auf weniger als ein Drittel reduziert. Dafür ist die Zahl der Auswanderer aus der EU steil gestiegen. »Spanien ist das perfekte Beispiel dafür«, erklärt die Vize-Generaldirektorin des IOM. Das Land zog wegen gleicher Sprache die Mehrzahl der Migranten aus Lateinamerika an. 2013 lebten 53 Prozent der 2,2 Millionen Menschen von dort in Spanien. Weitere 41 Prozent verteilten sich auf Italien (15 Prozent), Großbritannien (9 Prozent), Frankreich (7 Prozent), die Niederlande (6 Prozent) und Portugal (4 Prozent). Die restlichen 6 Prozent lebten in den übrigen EU-Staaten.
Schaut man zurück, verließen im Jahr 2003 nur gut 7000 Menschen Spanien in Richtung Lateinamerika (aus Gesamt-Europa waren es 37 000). Eine Arbeitslosenquote von 25 Prozent trieb 2012 schon 154 000 in die Flucht über den Atlantik. Weitere 27 000 kamen aus Italien, Portugal, Frankreich und Deutschland. Der Annahme, dass nur ehemalige Einwanderer in die Heimat zurückkehren, widerspricht die Studie. Es seien »nicht viele derer, die in die LAK-Region gehen, tatsächlich Rückkehrer«. Obwohl es Programme gab, um die Arbeitsmärkte zu entlasten, stellte die Organisation nur einen »leichten Anstieg« von Rückkehrern aus Krisenländern wie Spanien, Portugal und Irland fest.
Die Studie zeigt weitere Veränderungen: Waren es einst Argentinien, Brasilien und Venezuela, die die größte Zahl EU-Auswanderer aufnahmen, wandern nun immer mehr Europäer nach Chile, Peru, Bolivien und Ecuador aus. Herausgearbeitet wird auch ein geschlechtsspezifischer Aspekt: Bei den aus Lateinamerika in die EU eingewanderten Menschen zeigten sich Frauen deutlich anpassungsfähiger als Männer. Die Arbeitslosenquote von Frauen aus der LAK-Region sei bei Migrantinnen um zwölf Prozent niedriger als bei Männern. Bei diesen Einwandererinnen in Spanien liege die Quote sogar um »zehn Prozent niedriger als bei spanischen Frauen«. Mit Ausnahme Frankreichs sind die Beschäftigungsquoten von Frauen aus Lateinamerika und der Karibik auch in Italien, Portugal und Großbritannien höher als die der Männer. »Das ist besonders relevant in Bezug darauf, dass Frauen eine wichtige Rolle bei der Entwicklung ihrer Herkunftsländer haben«, heißt es in der Studie. Sie überwiesen regelmäßig Geld an die Familie in der Heimat.