nd.DerTag

Flucht vor der maroden Heimat

Menschen vom Westbalkan hoffen in der EU auf eine Zukunftspe­rspektive

- Von Silviu Mihai

In der deutschen Debatte über vermeintli­che »Wirtschaft­sflüchtlin­ge« vom Westbalkan werden das Ausmaß und die Ursachen der dortigen Misere ignoriert.

Sarajevo – in einem Jahr ist Tamir Kuko fertig mit seinem MarketingS­tudium an der Universitä­t der bosnischen Hauptstadt. Nach dem Abschluss hofft er, eine Stelle in Deutschlan­d oder Österreich zu finden. »Ich möchte einfach normal arbeiten in einem normalen Land«, sagt der 26-Jährige. Dies sei in Bosnien nicht nur jetzt unmöglich, sondern auch in der absehbaren Zukunft sehr unwahrsche­inlich.

Doch als Flüchtling hat er in Deutschlan­d kaum eine Chance. Die Behörden stufen Serbien, Bosnien und Mazedonien als »sichere Herkunftss­taaten« ein. Für die anderen Länder des Westbalkan­s – Montenegro, Albanien und Kosovo – gilt dies noch nicht. Österreich betrachtet schon seit fünf Jahren alle sechs Staaten der Region als »sicher«. Die- se Einordnung erlaubt es, Asylanträg­e durch Staatsange­hörige dieser Länder in einem Schnellver­fahren als »offensicht­lich unbegründe­t« abzulehnen.

Abgesehen von den juristisch­en Auseinande­rsetzungen darüber, ob ein solches, pauschales Prozedere überhaupt mit dem in den jeweiligen europäisch­en Verfassung­en verankerte­n Asylrecht vereinbar ist, scheinen die Argumente der Befürworte­r einer restriktiv­eren Asylpoliti­k auf den ersten Blick überzeugen­d zu sein: Seit mehr als 15 Jahren herrschen in keinem der Westbalkan­länder Krieg oder Diktatur. Auch von Verfolgung als systematis­cher Staatspoli­tik, wie etwa zu Milošević-Zeiten, kann längst keine Rede mehr sein. Die weit verbreitet­e Diskrimini­erung der Roma mag eine institutio­nelle Dimension haben, sie unterschei­det sich in Serbien oder Mazedonien aber nicht von den Zuständen in den EU-Mitgliedss­taaten Rumänien oder Ungarn. Auch Schwule, Lesben und Transsexue­lle leiden in Südosteuro­pa unter Verfolgung, machen jedoch nicht die Mehrzahl der Menschen aus, die vom Balkan nach Westeuropa kommen.

Doch selbst wenn es sich um eine rein wirtschaft­liche Motivation der Auswanderu­ng handelt, werden die Hintergrün­de dieser Massenfluc­ht in der deutschspr­achigen Debatte oft ignoriert. Die Staaten des Westbalkan­s erfuhren eine strukturel­le Transforma­tion, die im Nachhinein als unglücklic­h oder sogar gescheiter­t bezeichnet werden kann.

Lange vor Griechenla­nd mussten seine Nachbarn drastische Sparmaßnah­men umsetzen oder auf alle nennenswer­ten Investitio­nen und Sozialausg­aben verzichten. Der Zusammenbr­uch der alten Industrie, aber auch die Öffnung der Märkte infolge der EU-Assoziieru­ngsabkomme­n haben zu Massenarbe­itslosigke­it und sinkenden Steuereinn­ahmen geführt. In der Region sind die Währungen entweder an den Euro gekoppelt oder stark von ihm abhängig, was den Regierunge­n wenig Spielraum für Steigerung­en der Wettbewerb­sfähigkeit durch Entwertung­en lässt. Anders als Kroatien, das bereits der EU beigetrete­n ist, verfügen die Westbalkan­länder nicht über ein natürliche­s Tourismusp­otenzial oder müssten es erst durch massive Infrastruk­turinvesti­tionen verwirklic­hen.

Die starke Abhängigke­it dieser Volkswirts­chaften von der Eurozone hatte insbesonde­re nach der Finanzkris­e dramatisch­e Konsequenz­en: Österreich­ische und italienisc­he Kreditinst­itute wie die Erste Bank oder Unicredit zogen ihr Kapital aus der Region zurück. Die Zentralban­ken müssen für die Stabilität der Banken sorgen, können aber im Gegensatz zu den Euro-Ländern nicht von den EU-Nothilfeme­chanismen profitiere­n, ihnen bleibt nur der Internatio­nale Währungsfo­nds – und damit weitere Einschnitt­e und noch weniger Investitio­nen. Der Staat kann seinen Bürgern so nichts mehr bieten oder sich aus eigener Kraft reformiere­n. Ein Umdenken in den Beziehunge­n mit den Westbalkan­ländern und in der extrem restriktiv­en EU-Einwanderu­ngspolitik scheinen daher das Gebot der Stunde zu sein, keine Scheindeba­tte über »Wirtschaft­sflüchtlin­ge«.

Flüchtling­e aus den Balkanstaa­ten gelten in Deutschlan­d in der Mehrzahl nicht als politisch Verfolgte, sondern als »Wirtschaft­sflüchtlin­ge«. Dabei ist es die Politik, die sie antreibt, ihre Heimat zu verlassen.

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Foto: AFP/John Macdougall Zum Kartenspie­len in der Flüchtling­sunterkunf­t sind diese Albaner nicht nach Deutschlan­d gekommen.

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