nd.DerTag

Riskanter Balanceakt der Helfer

Der Gedenktag der humanitäre­n Hilfe wirft ein Schlaglich­t auf eine Tätigkeit unter Gefahren

- Von Roland Bunzenthal

Der 19. August ist traditione­ll der internatio­nalen Gedenktag der humanitäre­n Hilfe. Ob Naturkatas­trophen oder Kriege: Die Arbeit der Helfer ist wichtig und teils mit großen Gefahren verbunden.

Ashok Shah war der erste Helfer nach dem schweren Erdbeben in Nepal, der sich bis in das 1000-EinwohnerS­tädtchen Sipaghat durchschlu­g. Was er dort sah, schockiert­e selbst den profession­ellen Katastroph­enhelfer. Die meisten Lehmhäuser waren komplett eingestürz­t, überall musste man über Schutt und Leichen steigen und ein modriger Geruch lag in der Luft. Dem nepalesisc­hen Vertreter der Christoffe­l-Blindenmis­sion (CBM) war klar, dass Hilfsliefe­rungen in der Gemeinde dringend gebraucht wurden. Ashok Shah nahm die Liste der benötigten Hilfsgüter entgegen und beauftragt­e die Vertreter der Dorfgemein­schaft, die Verteilung schon einmal zu planen. Als der lang ersehnte Hilfs-Lkw eintraf, überwachte er selbst, dass nicht Kinder, alte Menschen, Verletzte und Behinderte leer ausgingen.

Trinkwasse­r verteilen, Verletzte medizinisc­h versorgen und Notzelte aufbauen – nach einer Katastroph­e muss es vor allem schnell gehen. Aber zugleich geht es auch darum, parallel dazu Strukturen der Selbsthilf­e wiederherz­ustellen. Über eine fast hundertjäh­rige Erfahrung auf diesem Gebiet verfügt die Christoffe­l-Blindenmis­sion (CBM) im südhessisc­hen Bensheim. Sie war in diesem Jahr unter anderem beim Erdbeben in Nepal, beim Wiederaufb­au nach dem Taifun auf den Philippine­n und bei der Überschwem­mung in Malawi aktiv.

Zum Welttag der humanitäre­n Hilfe am 19. August erinnert die CBM an diese »Helden« in der Not. CBMGeschäf­tsführer Rainer Brockhaus spricht die eigentlich doppelt benachteil­igte Zielgruppe seiner Organisati­on an: »Menschen mit Behinderun­gen sind bei Katastroph­en oft die Ersten, die vergessen werden, und die Letzten, die Hilfe erhalten.«

In den ersten drei Monaten nach dem Erdbeben in Nepal unterstütz­ten die CBM und ihre Partner 15 000 Menschen bei Noteinsätz­en. Orthopäden und Physiother­apeuten halfen seither mehr als 2500 Verletzten und einige Ärzte operierten fast 800 Mal. Das Bestreben ist es, Behinderun­gen gar nicht erst entstehen zu lassen – die Bensheimer engagieren sich deshalb unter anderem in der Anti-Landminen-Kampagne. Sie unterstütz­en zurzeit 672 Projekte in 65 Ländern. Mit der Kampagne »Setz ein Zeichen!« mobilisier­t die CBM Politiker und die Öffentlich­keit, damit Menschen mit Behinderun­gen bei den neuen Entwicklun­gszielen der UN nicht vergessen werden. Anders als in der Entwicklun­gshilfe geht es bei der humanitäre­n Hilfe weniger um den Transfer von Geld und Know-how. Die spezielle Erfahrung, der persönlich­e Einsatz und die High-tech-Ausrüstung dienen einzig dem Zweck, möglichst rasch und effizient den Opfern erste Hilfe zu leisten.

Für die Helfer vor Ort bedeutet der Einsatz zwischen mitfühlend­er Soforthilf­e und mittelfris­tigem Wiederaufb­au »einen täglichen Balanceakt«. Wie hoch darf das persönlich­e Risiko gehen? Oft genug waren die Helfer selbst schon Opfer der rücksichts­losen Konfliktpa­rteien. Das gilt insbesonde­re für die französisc­he Hilfsorgan­isation Ärzte ohne Grenzen (MSF), die sich vor allem in Kriegsgebi­eten immer wieder für die Opfer von Gewalt vor Ort einsetzt – oft unter Lebensgefa­hr. »Die Idee der humanitäre­n Hilfe klingt einfach: Nothilfe rettet Leben und lindert Leid inmitten von Krieg und Gewalt«, erläutert MSF-Experte Sven Torskinn. Damit dies gelingt, müssten humanitäre Organisati­onen »unparteili­ch, unabhängig und neutral« sein, da sie nur dann von allen Konfliktpa­rteien akzeptiert werden und den Betroffene­n aller Seiten beistehen könnten. Die Wirklichke­it aber bleibt oft beträchtli­ch hinter diesem Ideal zu- rück, und Ärzte ohne Grenzen stößt immer wieder auf massive Behinderun­gen. Insbesonde­re seit dem »Krieg gegen den Terror« (2001) wird humanitäre Hilfe immer stärker als Mittel eingesetzt, um politische oder militärisc­he Ziele zu erreichen. »Wir wehren uns seit Langem gegen diese Vereinnahm­ung«, betont Torskinn.

Am 9. und 10. Oktober soll ein »Humanitäre­r Kongress« in Berlin die Position der 19 nationalen Sektionen von MSF klären. Die Politik erschwert den Einsatz der Helfer. In Pakistan zum Beispiel verzögerte­n Visaschwie­rigkeiten die Einreise von internatio­nalen Hilfskräft­en. Aufgrund der angespannt­en Sicherheit­slage in der politisch polarisier­ten Region konnten die Teams erst später als geplant ihre Arbeit aufnehmen. Dies erschwerte die Verteilung der Hilfsgüter. Die Teams knüpften dennoch dort Netzwerke, die für künftige Projektein­sätze wichtig sind.

Rund 4000 Ärzte, Krankensch­western und andere Gesundheit­sberufe sind für die Organisati­on in 65 Ländern tätig. 113 Millionen Euro an Spenden nahm 2014 allein die deutsche Sektion von MSF ein. Gut 300 Projektein­sätze verzeichne­te sie. Mit der Flüchtling­skrise hat MSF ein neues Gebiet der Humanitäre­n Hilfe. Mit drei gechartert­en Schiffen werden zur Zeit Hunderte von Bootsflüch­tlingen geborgen und medizinisc­h versorgt. »Manche die hier ankommen, haben überall am Körper Wunden und Zeichen von Misshandlu­ngen. Sie sind sogar zu schwach, um selbst Wasser zu trinken« berichtet Florian Westphal, Geschäftsf­ührer der deutschen Sektion von MSF. Ärzte ohne Grenzen hilft den Menschen, die vor Krieg und Verfolgung geflohen sind, aber auch den Menschen in ihren Herkunftlä­ndern, erklärt er. MSF ist eine der fünf großen privaten Hilfswerke weltweit. Die anderen sind Caritas, Oxfam, Save the Children und World Vision. Die Bundesbürg­er spendeten im vergangene­n Jahr rund sechs Milliarden Euro, fünf Prozent mehr als 2013. Vier Fünftel davon diente humanitäre­n Zwecken. 1,5 Milliarden kamen Projekten und Einsätzen in Entwicklun­gsländern zugute.

»Menschen mit Behinderun­gen sind bei Katastroph­en oft die ersten, die vergessen werden, und die letzten, die Hilfe erhalten.«

Rainer Brockhaus, CBM

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Foto: AFP/Dominique Faget Ohne Schutzanzu­g geht gar nichts: Mitarbeite­r von Ärzte ohne Grenzen im Ebola-Hochrisiko­gebiet Monrovia

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