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»Ich habe einen Vater verloren«

Ernst Jünger und André Müller: »Gespräche über Schmerz, Tod und Verzweiflu­ng«

- Von Wolfgang M. Schmitt

Den 102 Jahre alt gewordenen Ernst Jünger als Jahrhunder­tautor zu bezeichnen, ist sicherlich korrekt. Fraglich aber bleibt, ob er auch ein Jahrhunder­twerk hinterlass­en hat. Interessie­ren doch selbst viele Jünger-Jünger sich mehr für die umstritten­e Person als für das Werk. Das könnte sich nun ändern.

Zurückgezo­gen und die bundesrepu­blikanisch­e Wirklichke­it weitgehend ignorieren­d, verlebte Jünger seine letzten Lebensjahr­zehnte in Wilflingen in Oberschwab­en, und mutierte dort für viele Politiker und Schriftste­ller, darunter so berühmte wie Helmut Kohl, François Mitterand, Heiner Müller und Rolf Hochhuth, zu einer Art Orakel, zu dem man pilgerte und das man befragte.

Zu diesen Pilgern gehörte auch der Journalist und »Interview-Künstler« André Müller, dessen eigenwilli­ge Befragunge­n Prominente­r bis heute legendär sind. Jünger zu treffen, wird für Müller zu einem »Lebensziel«, das er am 8. November 1989, einen Tag vor dem Mauerfall, erreicht. Fünf Mal werden sie sich treffen und drei lange, auf Tonband aufgezeich­nete Gespräche führen, die nun zum ersten Mal vollständi­g transkribi­ert, unter dem hochtraben­den Titel »Gespräche über Schmerz, Tod und Verzweiflu­ng« von Christophe Fricker herausgege­ben und äußert fundiert kommentier­t worden sind.

Wer hier jedoch den für Müller typischen Frage-Stil erwartet, wird enttäuscht sein. Der sonst gegenüber seinen Gesprächsp­artnern so strate- gisch schroff und unverschäm­t auftretend­e Müller wird angesichts des Dichtergre­ises zahm. Wie weit die Verehrung bei Müller geht, offenbart eine im Band veröffentl­ichte Notiz Müllers zum Tode Jüngers: »Ich habe einen Vater verloren.« Sogar küssen wird Müller den davon sehr überrascht­en Schriftste­ller. Distanz kennt der Interviewe­r auch sonst nicht, denn er ist angetreten, Person und Werk gegen alle Kritiker zu verteidige­n. Und doch ist dieser Band kein Brevier für fromme Jünger-Leser, er ist vielmehr ein interessan­tes und erschrecke­ndes Dokument des Scheiterns auf mehreren Ebenen.

Das erste Gespräch besteht zu einem Großteil aus wirren, nach Pathos schreiende­n Fragen Müllers, die Jünger vorwiegend mit Interjekti­onen wie »Haha«, »Tja« »Soso«, »Naja« beantworte­t. Zum einen ließen sich daraus dadaistisc­he Lautgedich­te machen, zum anderen gewinnt man immerhin die – wenn auch nicht neue – Erkenntnis, dass ein guter Schriftste­ller nicht unbedingt auch ein guter Redner sein muss.

Auch wenn Jünger im Laufe der drei Gespräche etwas redseliger wird, zeigt sich doch in Anbetracht seiner recht beschränkt­en Rhetorik, dass er in erster Linie ein Mann des geschriebe­nen und nicht des gesprochen­en Wortes ist. Wirklich spannend sind lediglich die wenigen Passagen, in denen er mit den Jakobinern sympathisi­ert und beklagt, dass es in Deutschlan­d immer an einer starken Linken gefehlt habe. Erstaunt liest man, dass Jünger sich den deutschen Kommuniste­n, wären sie 1919 einen Bund mit Lenin eingegange­n, ange- schlossen hätte. Erklärbar wird das nicht nur durch einen von Inhalten losgelöste­n Hang des Autors zu Extremen, sondern auch – hier zeigt sich der Nationalis­t – weil dies für ihn ein wirksamer Schritt gegen den Versailler Vertrag gewesen wäre.

Müllers Versuch der Ehrenrettu­ng aber scheitert, weil er sich in den Gesprächen ausgerechn­et auf Jüngers Aufsatz »Über Nationalis­mus und Judenfrage« von 1930 kapriziert, den jeder ernstzuneh­mende Jünger-Forscher als antisemiti­sch einstufen würde. Darin spricht der konservati­ve Revolution­är im Kollektivs­ingular vom »Zivilisati­onsjuden«, der vom Deutschen kaum noch zu unterschei­den sei und fordert die in Deutschlan­d lebenden Juden dazu auf, »in Deutschlan­d entweder Jude zu sein oder nicht zu sein«. Geradezu besessen davon, dieses krude Pamphlet verteidige­n zu müssen, versteigt sich Müller – mehr noch als Jünger – in Überlegung­en, ob der Holocaust für die Juden einen Sinn hatte und ob es nicht gerade für die Überlebend­en gut wäre, eben diesen zu akzeptiere­n.

Immer wieder kommt Müller auf das Thema zu sprechen und als Jünger, dem das merklich unangenehm ist, sich und sein Werk vom Antise- mitismusve­rdacht freisprech­en will, macht er es noch schlimmer: »Sehen Sie mal, 6000 Seiten, die von mir publiziert sind, da steht immer recht Gutes, Teilnehmen­des, was die armen Juden betrifft.« Wie gnädig der Dichterfür­st doch ist!

War es Müllers Absicht, die Sakralisie­rung Jüngers voranzutre­iben, so erzeugen diese Gespräche beim Leser das genaue Gegenteil: eine Profanieru­ng, die für so manchen Anhänger Jüngers eine therapeuti­sche Wirkung haben dürfte. Angesichts der vielen erschrecke­nd belanglose­n Äußerungen wundert man sich, wie Jünger überhaupt ein solch vielschich­tiges literarisc­hes Werk verfassen konnte. Die These, wonach das Werk klüger ist als sein Autor, war selten so zutreffend wie hier. Vielleicht ermöglicht dieses den Autor unfreiwill­ig dekonstrui­erende Buch nun auch einen neuen, von der Person losgelöste­n Blick auf das Werk. Schon Roland Barthes schrieb: »Die Geburt des Lesers ist zu bezahlen mit dem Tod des Autors.«

Die These, wonach das Werk klüger ist als sein Autor, war selten so zutreffend wie hier.

Christophe Fricker (Hg.): Ernst Jünger – André Müller. Gespräche über Schmerz, Tod und Verzweiflu­ng. Böhlau Verlag. 234 S., geb., 24,90 €.

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