Eine Bedrohung für den Frieden in Europa
Zu »Imperiales Bewusstsein«, 3.8., S. 10
Die Frage nach einem Ausweg aus dem blutigen Bürgerkrieg in der Ukraine stellen sich immer wieder viele Ostdeutsche, vor allem auch jene, die durch gemeinsame Arbeit oder gemeinsames Studium mit den Menschen in den ehemaligen Bruderländern verbunden waren. In den 1950er Jahren und später haben wir die Beziehungen der russischen, russischsprachigen, ukrainischen und jüdischen Genossen, Kollegen oder Kommilitonen erlebt, die im Wesentlichen durch Freundschaft und Zusammenarbeit bestimmt waren.
Im Artikel von Prof. Apryshchenko werden Aspekte der russischen Ge- schichtspolitik behandelt, welche auch in den medial geführten Auseinandersetzungen ihren Widerhall finden. Dabei wird meines Erachtens ausgeblendet, dass die Ukraine nicht nur »im Brennpunkt russischer strategischer Interessen steht«, sondern auch im Brennpunkt weitgehender geopolitischer und militärischer Interessen der USA.
Dass die »Frage der Vergangenheit von der Sphäre der Geschichte und Kultur auf das Gebiet der Politik und Sicherheit verlagert wurde« ist wohl kein Ergebnis der staatlichen Geschichtspolitik Putins, wie der Autor schreibt, sondern Ausdruck der geostrategischen Auseinandersetzung zwischen den USA und Russland um die Hegemonie in Eurasien. Schon 1997 nannte der als graue Eminenz und US-Präsidentenberater bekannte polnisch-amerikanische Professor Zbigniew Brzezinski in seinem Buch »Die letzte Weltmacht. Amerikas Strategie der Vorherrschaft« die Ukraine einen Dreh- und Angelpunkt auf dem eurasischen Schachbrett. Das war bekanntlich vor dem Amtsantritt Putins. Damit Russland nicht wieder Großmacht werden kann, darf es für die USA das Bündnis Russlands mit der Ukraine nicht geben.
Die Probleme der komplizierten Vergangenheit der Ukraine, deren heutiges Gebiet zu verschiedenen Zeiten Teil des russischen Imperiums, des polnisch-litauischen Staates, der österreichisch-ungarischen Monarchie oder später auch Polens waren, sowie deren historische Deutung sind Bestandteil der Auseinandersetzung um die Zukunft Eurasiens.
Es gibt russischen Nationalismus, russisches Heimatgefühl und beleidigten Nationalstolz. Und es gibt nach Ansicht des Autors »verspätete nationalistische Bewegungen« in der Ukraine. Gerade diese aber sollten neben den Russen auch uns Deutsche beunruhigen. Erst im vergangenen Monat hat sich in Kiew der in faschistischen Traditionen stehende sogenannte »Rechte Sektor« zur »nationalen Befreiungsbewegung« erklärt. Dessen Vorsitzender Dmytro Jarosch hat die Fortsetzung der »nationalen Revolution«, die Aufhebung des Minsk-2-Abkommens und die Legalisierung der faschistischen »Freiwilligenverbände« gefordert. Dabei geht es nicht nur um »die Wiederbelebung alter Symbolik«. Der Nationalistenführer Bandera und die sogenannte »Ukrainische Aufstandsarmee«, auf deren Konto Zehntausende 1941-1944 ermordeter Juden und Polen und vieler Russen und Ukrainer gehen, sind die neuen Helden der Ukraine. Sie sind auch das Vorbild für die Strafaktionen gegen die Bevölkerung der Ostukraine.
Ich meine, das russische öffentliche Bewusstsein hält die Ukrainekrise nicht nur für eine Bedrohung der russischen Sicherheit, wie der Autor des Artikels am Schluss resümiert – sie ist eine Bedrohung für Russlands Sicherheit, aber auch eine Bedrohung für den Frieden in Europa.
Eckart Schlenker, Rehfelde