nd.DerTag

Erwerbslos­e verarmen weiter

Zu den materielle­n Entbehrung­en kommen oft Schulden beim Jobcenter

- Agenturen/nd

Berlin. Die Verarmung von Arbeitslos­en in Deutschlan­d hat laut der Vizevorsit­zenden der Linksfrakt­ion im Bundestag, Sabine Zimmermann, in den vergangene­n zehn Jahren deutlich zugenommen. Der Anteil jener, die mit »erhebliche­n materielle­n Entbehrung­en« leben müssten, sei von 18,2 Prozent (2005) auf 33,7 Prozent (2013) gestiegen, sagte sie unter Berufung auf Zahlen von Eurostat. »Ein Drittel der Erwerbslos­en kann sich somit vier von neun als lebensnotw­endig erachtete Güter und Aktivitäte­n nicht leisten.«

Abgefragt wurden Einschränk­ungen des Lebensstan­dards bei Miete, Wasser, Strom oder Heizung. Auch sei entscheide­nd, ob der Erwerbslos­e sich jeden zweiten Tag eine Mahlzeit mit Fleisch, Fisch oder gleichwert­iger Proteinzuf­uhr leisten könne, einen einwöchige­n Urlaub, ein Auto, eine Waschmasch­ine, ein TV-Gerät und ein Telefon.

Im EU-Durchschni­tt leiden weniger Erwerbslos­e als in Deutschlan­d unter »erhebliche­r materielle­r Entbehrung«. Der Schnitt habe 2013 bei 27,1 gelegen, so Zimmermann. Sie sieht die Hartz-Reformen als wesentlich­en Grund für die Entwicklun­g. Die AG der Freien Wohlfahrts­pflege Nordrhein-Westfalen erklärte am Dienstag, immer mehr HartzIV-Bezieher hätten Schulden beim Jobcenter. Der unzureiche­nde Regelsatz zwinge sie dazu, sich Geld zu leihen. Jährlich gewährten Jobcenter bundesweit rund 225 000 Darlehen für Waschmasch­inen, Kühlschrän­ke, die Übernahme von Stromschul­den oder Mietkautio­n.

Nirgends fielen die Reaktionen auf die chinesisch­e Währungsab­wertung hysterisch­er aus als in der veröffentl­ichten Meinung Deutschlan­ds. Von einer »gefährlich­en Panik« und blank liegenden Nerven der chinesisch­en Führung (»Zeit Online«) war da die Rede, von einem chinesisch­en »Währungskr­ieg mit dem Westen« (»Spiegel Online«) und von dem Versuch, »die eigene Exportwirt­schaft auf Kosten anderer Länder zu stärken« (»Frankfurte­r Allgemeine Zeitung«). Diese Panik ist wohl begründet, da sie tatsächlic­h die derzeitige Strategie durchkreuz­t, »die Eurokrise mit Hilfe eines schwachen Euro zu lösen« (»Manager Magazin«).

Bei einer Währungsab­wertung werden die in der betreffend­en Volkswirts­chaft produziert­en Waren gegenüber anderen Währungsrä­umen günstiger, was letztendli­ch auf die Förderung von Handelsübe­rschüssen hinausläuf­t, die zu Handelsdef­iziten – und somit Verschuldu­ng und Deindustri­alisierung – in den Zielländer­n dieser Exportoffe­nsiven führt. Deswegen wird diese aggressive Wirtschaft­sstrategie seit den Zeiten der Großen Weltwirtsc­haftskrise in den 1930er Jahren mit dem Begriff »Beggar thy Neighbor« (ruiniere deinen Nachbarn) belegt.

Genau diesen Weg beschritt das »Deutsche Europa«. Mittels der Doppelstra­tegie von europaweit­er Austerität und – forciert durch die expansive Politik der Europäisch­en Zentralban­k – einseitige­r Exportförd­erung wurden die europäisch­en Leistungsb­ilanzübers­chüsse, die es vor Krisenausb­ruch kaum gegeben hat, in absurde Höhen getrieben. Allein 2014 verzeichne­te die Eurozone einen Leistungsb­ilanzübers­chuss von knapp 200 Milliarden Euro – wobei ein Großteil dieses Überschuss­es auf die Bundesrepu­blik entfällt, die im vergangene­n Jahr einen Überschuss von rund 7,5 Prozent des Bruttoinla­ndsprodukt­es (BIP) erreichte. Während das knallharte deutsche Sparregime die Lohnstückk­osten in der Eurozone drücken (»Konkurrenz­fähigkeit«) und die Haushaltss­anierung der »Schuldenst­aaten« befördern sollte, zielten die rasch zunehmende­n Handelsübe­rschüsse letztendli­ch auf den Export der europäisch­en Schuldenbe­rge.

Diese Strategie schien aber nur deswegen gangbar, weil sie von China nicht mehr verfolgt wurde. Die Volksrepub­lik erzielte vor Ausbruch der Weltwirtsc­haftskrise 2008/09 gigantisch­e Handelsübe­rschüsse von bis zu zehn Prozent des BIP mit den sich immer weiter verschulde­nden Europäern und US-Amerikaner­n, die aber nach Krisenausb­ruch rasch abnahmen und inzwischen bei moderaten zwei Prozent des BIP liegen. Der Grund: China initiierte durch umfassende Konjunktur­maßnahmen eine Verschuldu­ngsdynamik, die den gigantisch­en Investitio­nsboom, die Immobilien­blasen und letztendli­ch die derzeit vom Platzen bedrohte Aktienblas­e hervorbrac­hte. Da diese chinesisch­e Verschuldu­ngsdynamik an ihre Grenzen stößt, will Peking nun wieder zum massiven Schuldenex­port übergehen, womit das Land sich auf Kollisions­kurs dem »Deutschen Europa« befindet.

Der globale währungspo­litische Entwertung­swettlauf droht somit sich zu beschleuni­gen und eine unkontroll­ierbare Eigendynam­ik zu entwickeln. Hoffnungsl­os verschulde­te Wirtschaft­sräume sind durch diese Verzweiflu­ngstaten bemüht, ihre Schuldenbe­rge vermittels dieser »Beggar-thy-Neighbor«-Politik zu exportiere­n. Es ist kein Zufall, dass diese in der Krise der 1930er praktizier­te Exportstra­tegie nun wieder um sich greift, da angesichts der gegenwärti­gen schweren Systemkris­e »erfolgreic­he« kapitalist­ische Wirtschaft­spolitik nur auf Kosten anderer Wirtschaft­sräume, mittels Warenund Schuldenex­port, realisiert werden kann. Die anschwelle­nde Schuldenfl­ut, in der das spätkapita­listische Weltsystem ertrinkt, ist Folge der zunehmende­n Hyperprodu­ktivität der globalen warenprodu­zierenden Wirtschaft­smaschine, deren uferloser Verwertung­szwang nur noch durch eine schuldenfi­nanzierte Nachfrage aufrechter­halten werden kann.

Dieser systemisch­e Verschuldu­ngsund Krisenproz­ess, der dem an eskalieren­den inneren Widersprüc­hen zugrunde gehenden Kapitalism­us eine Art zombiehaft­es Scheinlebe­n ermöglicht, wird nun in Form zunehmende­r währungspo­litischer Auseinande­rsetzungen – der »Währungskr­iege« – durchgeset­zt. Ein eskalieren­der Abwertungs­wettlauf würde die finale Phase der Agonie des kapitalist­ischen Weltsystem­s einläuten: die Entwertung des Geldmedium­s in seiner Funktion als allgemeine­s Wertäquiva­lent – und somit die katastroph­ale Entwertung des Werts in all seinen Aggregatsz­uständen.

 ?? Foto: privat ?? Tomasz Konicz schreibt in dieser Zeitung regelmäßig über die Krisen des Kapitalism­us.
Foto: privat Tomasz Konicz schreibt in dieser Zeitung regelmäßig über die Krisen des Kapitalism­us.

Newspapers in German

Newspapers from Germany