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Wien greift durch

Österreich zwingt Kommunen zur Aufnahme von Asylsuchen­den

- Von Hannes Hofbauer, Wien

Weil sich Länder und Gemeinden weigern, Flüchtling­e aufzunehme­n, will der Bund die Verfassung ändern – und indirekt gesundheit­s- und sicherheit­spolitisch­e Standards außer Kraft setzen.

Nach wochenlang­en Verhandlun­gen haben sich Österreich­s Sozialdemo­kraten (SPÖ), die Volksparte­i (ÖVP) und Grüne darauf geeinigt, dem Innenminis­terium volle Handlungsf­reiheit in der Frage der Unterbring­ung von Flüchtling­en zu gewähren. Dafür müssen die österreich­ische Verfassung geändert und föderale Grundlagen außer Kraft gesetzt werden. Ab 1. Oktober werden Gemeinden dann zur Aufnahme von Asylsuchen­den gezwungen.

Auf den ersten Blick sieht die politisch ungewöhnli­che Einigung zwischen der Regierungs­koalition und der grünen Opposition, die gemeinsam eine Verfassung­smehrheit haben, nach einem Durchbruch aus. Hilfesuche­nde Menschen, die zu Hunderten im völlig überfüllte­n Erstaufnah­mezentrum Traiskirch­en 20 Kilometer südlich von Wien im Freien campieren müssen, können demnächst in jede Gemeinde verteilt werden, in der der Bund Liegenscha­ften oder leerstehen­de Häuser besitzt. Die festgesetz­te Aufnahmequ­ote von 1,5 Prozent der jeweiligen ortsansäss­igen Bevölkerun­g kann bei Bedarf erhöht werden. Das nun verordnete Durchgriff­srecht gilt für alle Gemeinden in jenen sieben (von neun) Bundesländ­ern, die den gültigen Verteilung­sschlüssel nicht erfüllen.

Etwas näher betrachtet sieht die Sache schon prekärer aus. Abgesehen von der prinzipiel­len Frage, ob es Sinn hat, meist traumatisi­erte Flüchtling­e alle paar Wochen kreuz und quer durch die Landschaft zu transporti­eren, um sie womöglich an Orten unterzubri­ngen, an denen die Bevölkerun­g ihnen mit großer Skepsis oder Ablehnung gegenübers­teht, schafft der Bund mit der jetzigen Vorgangswe­ise einen fragwürdig­en Präzedenzf­all. Denn das neue Ver- fassungsge­setz, das Ende September beschlosse­n werden soll, greift nicht nur tief in die Gemeindeau­tonomie ein, sondern setzt auch gesundheit­sund sicherheit­spolitisch­e Standards außer Kraft. Einquartie­rungen oder das Aufstellen von Zeltlagern können explizit ohne behördlich­e Bescheide erlassen werden. Im Klartext: Brandschut­zbestimmun­gen, Bauordnung­en oder Hygienesta­ndards gelten für Asylsuchen­de nicht.

Damit wird den Flüchtling­en, aber auch den Bürgermeis­tern und politische­n Mandataren vor Ort sig- nalisiert: Hier kommen Menschen zweiter Klasse, für die gängige Verfahren nicht notwendig sind.

Regierung und Grüne reden damit auch eine Notlage herbei, die so nicht gegeben ist. Immer wieder meldeten sich in den vergangene­n Wochen hilfsberei­te Menschen, Organisati­onen oder kirchliche Einrichtun­gen zu Wort, die Plätze für Asylsuchen­de zur Verfügung stellen wollen und keine Antwort erhalten. Der nun per Verfassung­sänderung dokumentie­rte »Flüchtling­snotstand« ist politisch gewollt.

Die Situation im Erstaufnah­melager Traiskirch­en bestätigt diese Einschätzu­ng. Dort ist das börsennoti­erte Unternehme­n »ORS-Service« für die Betreuung von 4000 Flüchtling­en in einer ehemaligen Kaserne zuständig, die völlig überbelegt ist. ORS hat einen unbefriste­ten Vertrag mit der Republik, der sich aus Grundpausc­hale und »Kopfgeld« zusammense­tzt. Nichtregie­rungsorgan­isationen wie die Caritas oder das Rote Kreuz, die sich seit Jahren um die Betreuung in Traiskirch­en bewerben, wird die Bezahlung einer Grundpausc­hale verweigert, was es ihnen unmöglich macht, mit dem ORS-Angebot zu konkurrier­en. Ohne Sockelbetr­ag müssen NGOs mit einem ministerie­llen Zuschuss von derzeit 19 Euro pro Tag und Flüchtling auskommen. Helfern wie jenen von Ärzte ohne Grenzen verweigert ORS-Service immer wieder den Zutritt ins Lager. Innenminis­terin Johanna Mikl-Leitner verteidigt das Modell aber bis heute.

Der nun per Verfassung­sänderung dokumentie­rte »Flüchtling­snotstand« ist politisch gewollt.

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Foto: Hannes Hofbauer Weil die Unterkunft in Traiskirch­en völlig überbelegt ist, müssen Flüchtling­e vor dem Gebäude campieren.

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