Ein verwilderter Garten
Jüdisches Leben in Konstanz damals und heute »Das Geheimnis aller Erfinder ist, nichts für unmöglich anzusehen.« Justus von Liebig
Es ist eine unscheinbare Postkarte, die die Tragik eines ganzen Lebens erzählt. Am 1. September 1942 schrieb die Konstanzer Jüdin Johanna Hammel an ihre Mutter Lina in dünnen blauen Linien mit sauberer Handschrift: »Wir fahren zwar nicht 1. Klasse, aber es geht viel besser, als sie alle dachten.« Kurz darauf wurde Johanna Hammel in Auschwitz ermordet. Zwölf Jahre hatte die Familie Hammel im badischen Konstanz gelebt. Am 22. Oktober 1940 wurden Johanna, ihre Mutter und der Vater sowie 109 Konstanzer Juden in das Internierungslager Gurs nach Südfrankreich verbracht. Die meisten von ihnen wurden später, wie Johanna Hammel, in das Vernichtungslager Auschwitz oder nach Majdanek deportiert. Die unglaublichen Verbrechen Nazideutschlands an den Juden hatte die einstmals 400 Menschen fassende Gemeinde in Konstanz ausgelöscht.
Die Hemdenmanufaktur des Konstanzer Juden Jakob Leib-Löb ist heute eine Commerzbank, in einem ehemaligen jüdischen Warenhaus findet sich jetzt das Erotik-Geschäft Beate Uhse.
Deutschland im Jahr 2015: Eine Studie der Bertelsmann-Stiftung besagt, dass 81 Prozent der Deutschen die Geschichte der Judenverfolgung »hinter sich lassen« wollen. Es soll endlich Schluss sein mit der Erinnerung an Johanna Hammel und die sechs Millionen ermordeten Juden. 75 Jahre sind vergangen seit der Deportation der Konstanzer Juden. »Erst 75 Jahre«, sagt Tobias Engelsing. Der Historiker ist Museumsdirektor in Konstanz und der Meinung, dass das Erinnern niemals aufhören darf. Deshalb hat Engelsing die Ausstellung »Das jüdische Konstanz. Blütezeit und Vernichtung« ins Leben gerufen und in dem gleichnamigen Buch Familiengeschichten jüdischer Familien und politische Hintergründe von 1863 bis zur Nachkriegszeit zusammengetragen.
Zwei Jahre lang hat Engelsing dafür auf Konstanzer Dachböden, in Museumsarchiven und privaten Familiensammlungen gesucht, um das vielfältige Leben der badischen Juden vor den Verfolgungen und Deportationen zu rekonstruieren. Zusammengekommen sind 400 Einzelteile von 70 Leihgebern aus der ganzen Welt. Wichtig war für den Museumsdirektor dabei, die Menschen nicht auf die Opferrolle zu reduzieren, in der die Geschichten der in der Shoah ermordeten Juden immer wieder erzählt werden. Die Verkürzung auf die Opferrolle, so Engelsing, blende das reiche jüdische Leben aus, welches eng mit der Stadtgeschichte von Konstanz verknüpft sei. So waren es die jüdischen Familien als Einzelhändler und Gewerbetreibende, die Konstanz nach der rechtlichen Gleichstellung der Juden 1862 zu einer bekannten Einkaufsstadt machten. Landfamilien, die zuvor in den »Judendörfern« in der Umgebung lebten, zogen in die Stadt am Bodensee und begannen mit einer neuen Form des Einzelhandels. Zu Beginn des neu erworbenen Stadtrechts lebten nur 13 jüdische Bürger in Konstanz, 1872 waren es bereits 251. Sie eröffneten Damenfachgeschäfte, Schuhgeschäfte, Herrenausstatter, Warenhäuser.
Von der einstigen Vielfalt jüdischen Lebens ist auf der Marktstätte in der Stadtmitte Konstanz 2015 nichts mehr zu sehen. Die Hemdenmanufaktur des Konstanzer Juden Jakob Leib-Löb ist heute eine Commerzbank, in einem ehemaligen jüdischen Warenhaus findet sich jetzt das Erotik-Geschäft Beate Uhse. Die Konstanzer Synagoge wurde während der Novemberpogrome 1938 zerstört und nie wieder aufgebaut. Bis heute. Nach 1945 kehrten kaum Überlebende nach Konstanz zurück. Heute zählen die beiden jüdischen Gemeinden wieder rund 400 Mitglieder.
Nathalie Nissenbaum zeigt in der Sigismundstraße auf ein leerstehendes Haus, dem Verfall nahe. Daneben ein verwilderter Garten. Hier wird sie entstehen, die neue Synagoge für die Konstanzer jüdische Gemeinde, wird sich wieder einfügen in das Stadtbild und aus einem verwilderten Garten einen sichtbaren Ort der Begegnung machen.
»So erhält die Gemeinde endlich etwas zurück, das ihr genommen wurde«, sagt Nathalie. Die 27-jährige ist durch ihre eigene Familiengeschichte eng mit der Stadt verbunden. Ihr Großvater Sigmund Nissenbaum, der das Warschauer Ghetto und die Konzentrationslager Treblinka, Majdanek, Lublin, Buzin dann Flossenbürg und Offenburg überlebt hatte, wurde durch die alliierten Streitkräfte in Donaueschingen befreit und kam so nach Konstanz. Sigmunds Mutter Chenja, die Schwestern Genia und Bronja sowie ein weiterer Bruder Jankel kamen in den Vernichtungslagern der Nazis ums Leben. Sigmund Nissenbaum, der zu Beginn der Besetzung Polens zwölf Jahre alt gewesen war, begann nun, als mittlerweile 19-Jähriger, als Altwarenhändler seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Nissenbaum wurde Unternehmer und einer der wichtigsten Gründervater der neuen jüdischen Gemeinde.
Sigmund Nissenbaum errichtete in seinem Geschäftshaus in der Sigismundstraße 1964 eine Familiensynagoge, die der Israelitischen Kul- tusgemeinde bis heute als Versammlungsort für Feiertage und den wöchentlichen Shabbat dient. Von außen erkennt der Besucher erst auf den zweiten Blick, dass sich hier das heutige jüdische Leben abspielt.
Eine junge Frau steht aufgeregt im Hauseingang und sucht nach einem Hinweisschild. Auf dem Vordach des Hauses, in dem nun ein Hotel und Wohneinheiten untergebracht sind, hat sie die Chanukkia entdeckt, den Kerzenleuchter, der zum jüdischen Lichterfest angezündet wird. Die Frau trägt ein T-Shirt mit hebräischen Schriftzeichen, die letzten elf Monate hat sie in Israel einen Freiwilligendienst abgeleistet, erzählt sie. Nun ist sie wieder zurück in Deutschland und auf der Suche nach Anknüpfungspunkten zur jüdischen Kultur. Nathalie Nissenbaum erklärt der Besucherin, dass die Synagoge hier im Haus tatsächlich zu finden, jedoch nicht jederzeit öffentlich zugänglich ist. Die beiden Frauen verabreden sich für später, damit die Frau die Synagoge besichtigen kann.
Mit einem kleinen Schlüssel sperrt Nathalie ein unscheinbares Eisengitter auf. Dahinter verbirgt sich für Nathalie, die in München PR und Kommunikationsmanagement studiert hat und jetzt im Familienbetrieb tätig ist, Heimat und Erinnerung. In ihrer Kindheit und Jugend hat sie hier viel Zeit mit ihrer Familie verbracht. Sie erinnert sich an die gemeinsamen Stunden mit ihrem Großvater Sigmund, der 2001 verstarb. Mit der Hand streicht sie über den Platz, auf dem Sigmund Nissenbaum all die Jahre saß. Mit einem Holzblock ist der Klappsitz für immer gesperrt. Im Erinnern lebt der Großvater weiter, der die weltweit geachtete Stiftung »Fundacja Rodziny Nissenbaumów« gründete, die in Polen über 200 jüdische Friedhöfe und Kulturstätten restauriert hat und von der Familie in seinem Sinne weitergeführt wird.
Auch Nathalie ist der Meinung, dass das Erinnern der wichtigste Schritt ist, um zu verhindern, dass ein Verbrechen wie die Shoah jemals wieder geschehen kann. Nicht nur deshalb hat Nathalie vor kurzem gemeinsam mit einem Freund aus der Gemeinde, Rony Basovski, das Netzwerk »Jewlike« gegründet. Die Gemeinschaft will junge Juden, von Konstanz ausgehend, in ganz Deutschland vernetzen und »Interkulturelle Brücken für eine jüdische Identität« bauen. Auf die Bertelsmann-Studie angesprochen, hat Nathalie kein Verständnis für die Verdrossenheit junger Deutscher, die sich nicht mehr mit den Verbrechen des Nationalsozialismus und der damit oft verbundenen eigenen Familiengeschichte auseinandersetzen möchten. »Es geht nicht um eine Schuldposition, die Deutsche tragen sollen, sondern darum, Aufklärungsarbeit zu leisten und dafür zu sorgen, dass so etwas nie wieder passieren kann«, sagt Nathalie.
Gemeinsam mit anderen jungen Menschen aus dem Netzwerk will sie in Schulen von ihrer jüdischen Identität und ihrer eigenen Familiengeschichte berichten. Weil der Zugang zu Geschichte durch einzelne Schicksale und Menschen erlebbarer wird, als durch das bloße Auswendiglernen der Schulgeschichtsbücher.
»Ich bin stolz, Jüdin zu sein« sagt Nathalie. Auch wenn das nicht das sei, was sie auszeichne oder zu einem anderen Menschen mache, sei es eben ihre Religion und Teil ihrer Identität, zu der sie offen stehe. Dass es dazu selbst 2015 noch Mut braucht, zeigen die Statistiken über antisemitische Übergriffe, die in den letzten Jahren in Deutschland nicht ab-, sondern zugenommen haben. Eine traurige Wahrheit, die die Wichtigkeit der Konstanzer Ausstellung und von Nathalies Netzwerk »Jewlike« unterstreicht.