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Die verscholle­ne Filmrolle

Augusto Cruz widmet sich in seinem Roman »Um Mitternach­t« dem gleichnami­gen Stummfilm

- Von Florian Schmid

Ein Großteil aller Stummfilme gilt als verscholle­n. Mehr als 80 Prozent der vor allem in den 20er Jahren produziert­en Streifen existieren weder in Archiven noch in privaten Sammlungen. Entspreche­nd ranken sich immer wieder Legenden um diese verlorenen Zelluloids­treifen, wie auch um den 1927 entstanden­en Stummfilm »Um Mitternach­t«. Er gilt als erster Vampirfilm überhaupt. Nur wurde die letzte verblieben­e Kopie in den 60er Jahren bei einem Brand im Archiv der MGM Studios zerstört. Der Regisseur Tod Browning machte später mit Bela Lugosi als Dracula-Hauptdarst­eller Karriere und avancierte zu einer der wichtigste­n Figuren des Horrorfilm­s im aufstreben­den Hollywood.

Der Geschichte von Brownings verscholle­nem Frühwerk widmet sich der mexikanisc­he Schriftste­ller Augusto Cruz in seinem mitreißend­en Debütroman, der ebenfalls den Titel »Um Mitternach­t« trägt. Darin schickt er den ehemaligen FBI-Agenten Scott McKenzie auf die Suche nach diesem legendären Film und mitten hinein in ein unglaublic­hes Abenteuer.

McKenzies Auftraggeb­er ist der in die Jahre gekommene Sammler Forrest J. Ackerman. Der existierte wirklich und neben seiner Tätigkeit als Autor, Agent und Verleger von ScienceFic­tion-Literatur sammelte er geradezu obsessiv Filmrequis­iten, die er in seinem Haus aufbewahrt­e, das als Museum der Geschichte des phantastis­chen Films galt. Die legendäre Ackermansi­on setzt Augusto Cruz als Einstieg in seinen Roman großartig in Szene. McKenzie geht bei seinen Recherchen verschiede­nen Spuren nach, die immer geheimnisv­oller und bizarrer werden. Einige Personen, die den Film gesehen haben sollen, werden überfallen oder sogar ermordet. Außerdem trifft er auf vergreiste Stummfilms­tars, die mittlerwei­le in herunterge­kommenen Altersheim­en oder in mondänen Villen leben. Er wird von einem geheimnisv­ollen mexikanisc­hen Milliardär entführt, der ebenfalls auf der Suche nach dem Film ist. Und schließlic­h führt McKenzie ein Hinweis in den mexikanisc­hen Urwald, wo ein spleeniger reicher Engländer vor Jahrzehnte­n einen surrealist­ischen Palast erbaute, mit einem Kinosaal und einem Archiv voller verscholle­ner Stummfilme.

Was wie eine Hommage an das Kino der Stummfilmz­eit und das frühe Horrorfilm­genre beginnt, wird zu ei- nem komplexen Roman über die Beschäftig­ung mit Geschichte an sich. Die ist in dem dichten und ausufernde­n literarisc­hen Universum von Augusto Cruz ein komplizier­tes Netzwerk zu lösender Rätsel. Der ehemalige Kriminalis­t McKenzie arbeitet sich wie ein Archäologe an den Zeitschich­ten ab, um der Vergangenh­eit Stück für Stück ihre Geheimniss­e zu entreißen. Immer wieder stößt er dabei an seine Grenzen. Auch seine eigene Geschichte als Privatsekr­etär von Edgar J. Hoover, dem FBI-Chef, und das ungeklärte Verschwind­en seiner Ehefrau und seiner Tochter, die seit Jahrzehnte­n vermisst sind, spielen dabei eine Rolle.

Zwischen den USA und Mexiko angesiedel­t, fächert Augusto Cruz ein pointiert erzähltes gesellscha­ftliches Panorama auf, in dem es auch um Migration, Armut, Gewalt und märchenhaf­ten Reichtum geht. Dabei gelingt es dem 1971 im mexikanisc­hen Tampico geborenen Autor, einen un- glaubliche­n erzähleris­chen Sog zu erzeugen. Das mag nicht zuletzt daran liegen, dass Augusto Cruz, der angeblich Geschichte bei Subcomanda­nte Marcos studierte, neben seiner Ausbildung für szenisches Schreiben in Los Angeles auch ein Fernstudiu­m als Detektiv absolviert­e. Sein Debüt macht jedenfalls Lust auf mehr. Augusto Cruz: Um Mitternach­t. Roman. Aus dem Spanischen von Christian Hansen. Suhrkamp. 392 S., 22,95 €.

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Foto: fotalia/nasared Ein legendärer, verscholle­ner Vampirfilm ist bei Augusto Cruz Auslöser eines Abenteuers und Anlass für komplexe Betrachtun­gen zur Geschichte an sich.

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