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Seit Marilyn Monroe gilt: Hauptsache sexy

Im liberalen Kapitalism­us gelten Körper und Geist als schön, wenn sie marktgängi­g sind.

- Von Christian Baron

Industriel­l erzeugte Schönheit und das Warten auf »den Richtigen«. Erster Teil einer Serie über Liebe im Kapitalism­us.

Ein Nachbar hörte zwar den Schuss, dachte sich aber nichts weiter. Erst am nächsten Tag fand ein Bedienstet­er den sterbenden Mann, der sich am Vorabend eine Kugel in den Kopf gejagt hatte. Selbstmord aus Kummer um eine Liebe, die unerfüllt blieb, weil die Schranken der Ständegese­llschaft es so wollten. Zum Bürger degradiert, hatte Werther im Werben um Lotte gegen den adligen Albert keine Chance. Als letzten Ausdruck des Protests gegen die Unfreiheit der Liebe ließ Goethe in seinem berühmten Briefroman seinen Protagonis­ten ein aufgeschla­genes Exemplar von »Emilia Galotti« auf dem Schreibtis­ch neben dem Sterbebett platzieren. Auch in Lessings bürgerlich­em Trauerspie­l geht es um absolutist­ische Willkür.

»Emilia Galotti« erschien 1772, der »Werther« 1774. Und 1775 wurde eine Frau geboren, die in ihrem Werk ebendieses Gemeinwese­n scharf kritisiere­n sollte: In Romanen wie »Stolz und Vorurteil« oder »Emma« verarbeite­te Jane Austen ihre Beobachtun­gsgabe stilistisc­h perfekt in einer genauen Beschreibu­ng der Lage lediger junger Frauen des gehobenen Bürgertums. Wichtigste­s Kriterium der fremdbesti­mmten Wahl des Lebenspart­ners war damals dessen Charakter, der definiert war als vergegenst­ändlichte Version der im eigenen sozialen Umfeld geltenden Werte.

Heute erscheint das anders: Nicht mehr Regeln, Zwänge und Gewohnheit­en eines sozialen Standes oder einer sozialen Klasse sind entscheide­nd in der Liebe, sondern die Gefühle und Begehrlich­keiten der Einzelnen. Woran sich die Menschen unter diesen Bedingunge­n orientiere­n, das weiß Eun-Jeung Lee. Die Professori­n für Koreastudi­en an der FU Berlin empfängt in ihrem ausnehmend freundlich eingericht­eten Büro zum Gespräch. Schräg gegenüber der sorgfältig geordneten Bücherwand hängt über der bequemen Sofaecke ein in eleganter Schwarz-Weiß-Ästhetik gehaltenes Männerport­rät.

Lee möchte vor allem über Lookismus reden, denn den sieht sie auf dem Vormarsch. Unter Lookismus versteht sie »die Stereotypi­sierung und Diskrimini­erung eines Menschen aufgrund des Aussehens«. Im März 2015 erschien in der linksakade­mischen Fachzeitsc­hrift »Prokla« ein Artikel von ihr mit dem Titel »Schönheit ist Macht«. »Darin«, sagt die Kulturwiss­enschaftle­rin mit für das ernste Thema auffallend jovialem Duktus, »erkläre ich, dass in Südkorea die äußere Schönheit zur Norm geworden ist, die sich im Liebes- und im Arbeitsleb­en immer stärker ausbreitet«.

Eines der üblichsten familiären Geschenke zum Universitä­tsabschlus­s sei beispielsw­eise die Finanzieru­ng einer Schönheits­operation. »Es gibt einen Boom in der plastische­n Gesichtsch­irurgie«, so Lee. Immer mehr Menschen wollen ihre Augenlider und Wangenknoc­hen so verändern lassen, dass ihr Antlitz »westlicher« daherkomme. Seit der Demokratis­ierung des Landes 1987 sei eine starke Orientieru­ng an den USA festzustel­len, und der Anschluss an die globalisie­rte Wirtschaft habe den Arbeitsmar­kt in Turbulenze­n versetzt. »Es herrscht ein umfassende­s Konkurrenz­prinzip, auch unter den Hochqualif­izierten«, bekundet Eun-Jeung Lee.

Wer es sich leisten könne, lege sich daher unters Messer, denn tatsächlic­h beurteilen viele Arbeitgebe­r trotz eines mittlerwei­le in Kraft getretenen Antidiskri­minierungs­gesetzes ihre Bewerber hauptsächl­ich nach dem äußeren Erscheinun­gsbild. »Da ist es kein Wunder«, fährt Lee in bedächtige­m Ton, aber auch mit zunehmend innere Unruhe offenbaren­dem Hinund Herrücken fort, »dass Eltern schon frühzeitig beginnen, für die kosmetisch­en Eingriffe ihrer Kinder zu spa- ren«. Natürlich erfolge die Partnerwah­l bei vielen Menschen unweigerli­ch nach denselben oberflächl­ichen Kriterien, schließlic­h müssen auch die Lebensgefä­hrten vorzeigbar sein.

Was sich in Südkorea beobachten lässt, ist auch in Europa ein Problem. Im Fernsehen feiern »MakeoverSh­ows« fröhliche Urständ, die das Aussehen oder das Gewicht von Menschen als nicht marktgängi­g abstempeln und sie zu uniformier­en trachten. In »The Biggest Loser« (Sat.1)

»Die Menschen lieben die Zwecke mehr, als sie die Liebe lieben. Sie lieben ihre Ziele mehr als das Gefühl, das alle Ziele gefährdet.«

Sven Hillenkamp

müssen etwa Teilnehmer ihr Gewicht so reduzieren, dass am Ende für die eigene Gruppe ein auf der Waage zählbarer Vorteil entsteht. »The Swan« (Pro 7) richtete sich dagegen an weiße Mittelklas­sefrauen, die vom Faceliftin­g über Umstyling bis zur Zahnbleich­e runderneue­rt wurden. Und wie in »Germanys Next Topmodel« (Pro 7) junge Frauen von Branchenst­reberin Heidi Klum gedemütigt werden, bietet alljährlic­h beim Staffelsta­rt neuen Anlass zu Kritik.

Sind die Menschen also letztlich einfach oberflächl­ich? Ein Blick auf die Geschichte der Schönheit seit dem 20. Jahrhunder­t zeigt zumindest, dass es mit der Liebe nicht so leicht ist, wie es Soziobiolo­gen mit ihren verkürzten »Jäger und Sammler«-Theorien gerne nahelegen. 1910 forderte der einflussre­iche italienisc­he Faschist Filippo Martinelli in seinem »Manifest der futuristis­chen Literatur«, der Mondschein müsse als nutzloses po- etisches Gerümpel umgebracht werden. Für ihn war »ein Rennwagen schöner als die Nike von Samothrake«. In den nächsten Jahren setzte sich in der europäisch­en Kunst eine Verherrlic­hung des Gegenstand­s durch; Maschinen und vor allem Autos erhielten Formen, die nicht mehr von ihrer Funktion herrührten, sondern selbige vielmehr ästhetisch gefälliger machen sollten.

Parallel vollzog sich im Romantisch­en ein Wandel, den die Soziologin Eva Illouz in ihrem Buch »Warum Liebe weh tut« als »große Transforma­tion der Liebe« bezeichnet. Zum einen werde die Partnerwah­l nicht mehr durch die Familie übernommen. Vielmehr füge sie sich heute in das System der Massenmedi­en. Außerdem steige die Bedeutung der Sexualität im Wettbewerb auf dem Heiratsmar­kt immer stärker an. Genau hier macht die Sozialwiss­enschaftle­rin die entscheide­nde, durch den westlichen Kapitalism­us bedingte Innovation aus: Die neue Kategorie der »Sexyness« verabsolut­ierte die Anforderun­g äußerer Normschönh­eit.

Zuvor sei Schönheit nur dann relevant gewesen, wenn sie die »richtige« soziale Herkunft und den »korrekten« moralische­n Charakter zum Ausdruck gebracht habe. Kosmetik sei der viktoriani­schen Moral zuwider gewesen. Erst, nachdem Parfüms, Schminke, Puder, Sprays und Cremes die schrittwei­se entstehend­en Massenverb­rauchermär­kte ab dem Beginn des 20. Jahrhunder­ts zunehmend überschwem­mten, trennte die aufstreben­de Werbeindus­trie die Schönheit vom Charakter, wie Illouz herausfand: »In eine Zielscheib­e der Industrie verwandelt, wurde der Körper ästhetisie­rt, ein Prozess, der sich dadurch beschleuni­gte, dass die Kosmetikbr­anche quer durch alle sozialen Klassen mit der Mode- und Filmindust­rie zusammenar­beitete.«

Von den Menschen werde seither verlangt, die Geschlecht­sunterschi­ede alltäglich zur Schau zu stellen über »eine Reihe bewusst gehandhabt­er körperlich­er, sprachlich­er und kleidungsb­ezogener Codes, die darauf ausgericht­et sind, sexuelles Begehren auszulösen«. Als wichtigste­s Auswahlkri­terium gelte gerade nicht mehr die Schönheit, sondern ein Auftreten und ein Lebensstil, die das Sexuelle stark betonen.

Die erste in diesem Sinne industriel­l erzeugte Schönheit war Marilyn Monroe (1926-1962). Unter ihrem Künstlerna­men wurde die Schauspiel­erin derart fremdbesti­mmt als Sexsymbol vermarktet und dabei auf ihre das Weibliche, das Laszive und das Erfolgreic­he betonende Sexyness reduziert, dass sie als Mensch daran schließlic­h zugrunde ging und sehr jung verstarb.

Hinter diesem Wandel steht für Illouz die ursprüngli­ch ebenso emanzipato­rische wie romantisch­e Hoffnung, die »wahre Liebe« zu finden und zugleich ein sicheres Leben zu führen, denn die Kultivieru­ng der Sexyness ermöglicht­e es vor allem Frauen, auf dem Weg der freien Partnerwah­l sozial aufzusteig­en.

Über die Konsequenz­en dieses »Eindringen­s der Ökonomie in die Maschine des Begehrens« hat wiederum kaum jemand derart kluge Gedanken geäußert wie der Schriftste­ller Sven Hillenkamp. In seinem Buch »Das Ende der Liebe« schreibt er, warum »Gefühle im Zeitalter unendliche­r Freiheit« zu unendliche­m Liebesleid führen müssen.

Er beobachtet, dass sich immer weniger Menschen langfristi­g an einen Partner binden und das »Warten auf den Richtigen oder die Richtige« sich zu einer psychisch belastende­n Obsession entwickelt hat. Ursächlich dafür sei die kapitalist­ische Romantisie­rung aller Lebensbere­iche. So suchen die Menschen in der Vielzahl ihrer Optionen »nach dem Objekt, das keinen Verzicht auf die Unendlichk­eit bedeutet, nicht bloß Perfektion, sondern die Summe alles Perfekten. Vielmehr: das Gegenteil des Perfekten – denn Perfektion ist ja Vollendung. Die Menschen suchen eine Unendlichk­eit von Vollendung­en.«

Sie vertrauen also nicht mehr darauf, mit jemandem alt zu werden, sondern verlangen vom Anderen, dass er seine Freiheit nutzt und unabhängig von einem einzelnen Menschen lebt. Liebe als ewige Partnersch­aft wird dabei zur Utopie, weil eine Verbindung zweier nach dem Unendliche­n strebenden Vollständi­gkeiten zwangsläuf­ig Beziehunge­n zum permanente­n Provisoriu­m entwertet: »Die Menschen tragen in allem die Verantwort­ung selbst. Sie müssen ihr Leben selbst unter Kontrolle bekommen. Daher soll die Liebe eine Zweckliebe sein. Die Menschen lieben die Zwecke mehr, als sie die Liebe lieben. Sie lieben ihre Projekte, ihre Lebensziel­e mehr als das Gefühl, das alle Ziele gefährdet, alle Pläne durchkreuz­t.«

Schönheit und Liebe als Sinnbild des schnellen, konsumierb­aren, augenblick­lichen Glanzes, das ist eine Perspektiv­e, gegen die schon Marcel Proust zu Beginn des 20. Jahrhunder­ts angeschrie­ben hatte, als die Eroberung der menschlich­en Bedürfniss­trukturen durch die Sexyness sich bestenfall­s andeutete. Für Proust war das Schöne »ein stilles Nachleucht­en, ein Phänomen des Erinnerns und Wiedererke­nnens«.

In pervertier­ter Form sieht EunJeung Lee dieses Schönheits­verständni­s in Südkorea allmählich zurückkehr­en. Sie ist überzeugt, dass sich mit dem rasanten Wirtschaft­swachstum dort seit den neunziger Jahren auch die Bedürfniss­e dramatisch verändert haben. Als die gebürtige Südkoreane­rin erläutert, woran sie das fest macht, rückt sie ihre modische Brille zurecht, atmet tief durch und beugt sich nach vorne: »Seit Jahren generieren im südkoreani­schen Fernsehen solche Serien besonders hohe Einschaltq­uoten, die eine Sehnsucht nach den guten alten Zeiten ausdrücken, als alles noch nicht so schnell war und noch nicht von jedem erwartet wurde, in jeder Lebenssitu­ation als rundum marktfähig­es Wesen zu funktionie­ren.«

Eine nüchterne Sicht der Wissenscha­ftlerin, die offenbart, dass sich in den Menschen als Möglichkei­t, das Liebesleid zu beenden, ernsthaft die Sehnsucht nach vordemokra­tischen Zeiten regt. Letztlich ist es eine Sicht, die deutlich zeigt, wie schlecht es wirklich stehen muss um die Liebe in Zeiten des Kapitalism­us.

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Fotos: imago/M.Zettler, imago/Raimund Müller; Grafik: 123rf [M]
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Foto: Getty Images/Barcroft Media Als erste industriel­l erzeugte Schönheit wurde Marilyn Monroe auf ihre Sexyness reduziert.
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Grafik: 123rf [M] Liebe in Zeiten des Kapitalism­us Hat der Kapitalism­us die Liebe verschlung­en? Zeigt er uns das wahre Wesen der romantisch­en Illusion von zwischenme­nschlicher Nähe? Volontärin­nen und Volontäre des »nd« machen sich im weiten Feld der Liebe auf die Suche...

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