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Wie in einem Entwicklun­gsland

- Stefan Otto über eine zögerliche Kanzlerin in der Asylpoliti­k, komplett überforder­te Behörden und Lichtblick­e in der Zivilbevöl­kerung

Die Bundesregi­erung reagiert in der Asylpoliti­k seit Monaten überaus lethargisc­h. Wie ein träger Computer, dessen Festplatte bis zum letzten Byte belegt ist. Selten hat man den Eindruck, dass die Kanzlerin Angela Merkel geradezu überforder­t ist. Ausschließ­lich der öffentlich­e Druck hat sie dazu genötigt, nach den Ausschreit­ungen ins sächsische Heidenau zu fahren, um sich vor Ort von den Rassisten abzugrenze­n. Sie sagte, was von ihr verlangt wurde, appelliert­e daran, dass jeder, der nach Deutschlan­d komme, das Recht auf eine faire Behandlung habe. Es war eine blutleere Ansprache.

Werden diese Worte etwas ändern? Wird Merkel die Asylpoliti­k jetzt zur Chefsache erklären, wie es Optimisten im Anschluss geäußert haben? Wird sie womöglich den Notstand ausrufen, damit die Flüchtling­e schnell und unbürokrat­isch Hilfe bekommen? Wohl kaum. Dabei fordert einer aktuellen Umfrage zufolge jeder dritte Bundesbürg­er, dass für Asylbewerb­er mehr getan werden müsse.

Mittlerwei­le gibt es viele Menschen, die nicht mehr zusehen wollen, wie heillos überforder­t die Behörden auf die Neuankömml­inge reagieren. Längst sind sie es, die jene oft geforderte »Willkommen­skultur« vorleben. Sie vermitteln Flüchtling­en private Wohnräume, versorgen sie mit Möbeln und Kinderspie­lzeug. Mitunter ist ihr Engagement so weitreiche­nd, dass sie vor überfüllte­n Aufnahmela­gern die Grundverso­r- gung mit Lebensmitt­eln und Wasser übernehmen, wie bis vor wenigen Tagen in Berlin-Moabit. Ein Catering gab dort täglich rund 1200 Essen aus, finanziert durch private Spenden. Ein solches Engagement ist bislang beispiello­s.

Als Bundespräs­ident Joachim Gauck diese Woche in Berlin ein Flüchtling­sheim besuchte, ging er übrigens nicht nach Moabit, sondern sprach in einer Einrichtun­g in Wilmersdor­f über ein helles und dunkles Deutschlan­d. So sehr er die freiwillig­en Helfer auch lobte und die rassistisc­hen Hetzer verurteilt­e, sein Auftritt wirkte angesichts der Szenen, die sich rund um die zentrale Aufnahmeei­nrichtung in Moabit abspielten, deplatzier­t. Wie ein Wegschauen – als wollte er nicht wahrhaben, dass dort Zustände wie in einem Entwicklun­gsland herrschen.

Die Wirtschaft reagiert auf die Neuankömml­inge dagegen ganz anders als die hohen Repräsenta­nten der Republik. Viele Unternehme­r zeigen sich aufgeschlo­ssen gegenüber Asylbewerb­ern. Längst gibt es Firmen, die Flüchtling­e ohne Vorbehalte einstellen würden, vor allem natürlich in Branchen, die händeringe­nd Arbeitskrä­fte suchen. So beabsichti­gt die Deutsche Bahn, zwei spezielle Ausbildung­sprojekte für junge Flüchtling­e einzuricht­en. Selbst die Bundesagen­tur für Arbeit appelliert an die Unternehme­n, bei der Neubesetzu­ng von Stellen auch an die Flüchtling­e zu denken, die durchaus Potenziale aus ihren Heimatländ­ern mitbrächte­n. Denn es ist damit zu rechnen, dass insbesonde­re die Flüchtling­e aus Kriegsgebi­eten lange in Deutschlan­d bleiben werden. Für einen Neuanfang müssen sie eine Chance bekommen – auch auf dem Arbeitsmar­kt.

Noch vor nicht allzu langer Zeit schienen solche Vorschläge undenkbar. Da verfolgte die Bundesregi­erung eine überaus restriktiv­e Asylpoliti­k, die Flüchtling­en den Zutritt zum Arbeitsmar­kt schlicht verwehrte. Sie sollten keinesfall­s Anreize zum Bleiben erhalten. Ihre Bewegungsf­reiheit war mit der Residenzpf­licht stark eingeschrä­nkt, und vielerorts bekamen sie Gutscheine statt Bargeld. Somit saßen sie teilweise jahrelang vor ihren Containern und waren zur Untätigkei­t verdammt.

Wenn man die Asylpoliti­k in der Vergangenh­eit betrachtet, dann verwundert Merkels zögerliche Haltung nicht mehr. Sie scheut sich vor einer Kehrtwende – nicht zuletzt aufgrund der Spannungen in der eigenen Partei: Zwar strebt die CDU an, sich zu modernisie­ren, um auch für weltoffene Großstädte­r attraktiv zu werden, die als offen für eine Integratio­n von Flüchtling­en gelten. Doch gibt es auch noch immer die Konservati­ven am rechten Rand. Jene Pegida-Versteher will die Kanzlerin nicht ohne Weiteres aufgeben.

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Foto: nd/Anja Märtin Stefan Otto ist Redakteur im Inlandsres­sort des »nd«.

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