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»Komm rein, hier sitzt du gut«

Die Getreide- und Rapsernte im thüringisc­hen Landkreis Gotha ist zu Ende. Viele Äcker sind hier noch immer im Besitz der Bauern, was auf die Bodenrefor­m und die Enteignung der Großgrundb­esitzer vor 70 Jahren zurückgeht.

- Von Burga Kalinowski

»Die Bodenrefor­m bot eine Zukunft für viele, die bisher keine hatten: Landarbeit­er, Gutsknecht­e und vor allem hunderttau­sende Umsiedler und Flüchtling­e. ›Junkerland in Bauernhand‹ gehörte zu den inhaltlich­en Beschlüsse­n des Potsdamer Abkommens.«

Die Ernte, das Wetter, die Sorgen der Bauern, Bodenrefor­m 1945, die Wende 1989/90, Landwirtsc­haft heute – da kann nichts passieren: historisch­e Momente und biografisc­he Bilanzen im Alltag. Die Reportage darüber aus der Gegend um Gotha klappt. Dachte ich. Einen Plan B gab es nicht. Alles war klar. Dann platzen die Termine mit den drei wichtigste­n Gesprächsp­artnern. »Hier ist die Hölle los«, hieß es. Ja, und.

Zum Glück treffe ich in Gotha Johanna Scheringer-Wright, agrarpolit­ische Sprecherin der LINKEN im Thüringer Landtag. Sie kennt sich in der Region aus, sie kennt die Probleme der Bauern, sie ist Expertin für Landwirtsc­haft und eine Scheringer. Sie bringt mich in die Familie: der Onkel, Konrad Scheringer, und seine Frau, Cousine Kathie, die Cousins Robert und Nico.

Es ist ein später Nachmittag im August. Über die Fahnersche­n Höhen legen sich schon ganz leicht die blauen Schatten des Abends. Erzählstun­de im Garten. Zeitgeschi­chte und Familienge­schichten unterm Nussbaum. Robert drischt noch den Raps zu Ende und kommt später, Nico mäht bis in die Nacht den letzten Weizen. Ihn treffe ich tags darauf auf dem Feld beim Strohpress­en.

In den nächsten Tagen bin ich in Großfahner, Kleinfahne­r, Döllstedt, früher LPG und Kooperatio­nsverband. Hier leben und arbeiten gewisserma­ßen die DDR-Bürger des bayrischen Scheringer-Clans. Konrad, ein Sohn, und die Enkelkinde­r von Richard Scheringer, eine legendäre und umstritten­e Persönlich­keit des 20. Jahrhunder­ts. Erst Reichswehr, schwarz und national, kurz Sympathisa­nt der Nazis. Dann rot und für die sozialisti­sche Weltrevolu­tion. Ein langer Weg von da nach dort. Auch falsch und gefährlich. Ulmer Prozess, Urteil, Festungsha­ft. Er denkt nach. Er begreift. Er lernt aus Erfahrung und in der Haft als Gefährten schließlic­h Kommuniste­n kennen, bekennt sich 1931 zu ihren Zielen und bleibt bis zum Lebensende 1986 dabei. Endlich das Richtige. Für ihn.

Nach dem Krieg ist er Abgeordnet­er und Chef der KPD-Fraktion im bayrischen Landtag, später erkennt ihm der Bundesgeri­chtshof die bürgerlich­en Ehrenrecht­e ab, weil er für das KPD-Programm zur deutschen Wiedervere­inigung eintritt. Er war Soldat, Bauer und Rebell. Die Geschwiste­r Scholl verbrachte­n ihre Ferien auf seinem Bauerhof bei Ingolstadt, mit dem Verleger Ernst Rowohlt war er befreundet, Walter Ulbricht hat ihn besucht und Ernst Jünger schrieb auf den Trauerkran­z »Dem alten Freunde«. Seinem Lebensberi­cht gibt Scheringer den Titel »Das große Los«.

Mit Katharina Scheringer stake ich über das Rapsfeld. Es ist wahnsinnig heiß – der Wetterberi­cht meldet Hitzerekor­d –, es staubt und stiebt, aber Kathi ist begeistert. »Gucke, was der schafft«, sie meint den Mähdresche­r und ihren Bruder Robert. Sie lacht und winkt. Ihre gute Laune ist ansteckend.

Ich weiß nicht, ob sie als Hauptbuchh­alterin der Agrargenos­senschaft Großfahner Zahlen mögen muss, bin mir aber ganz sicher, dass sie das Land und die Landwirtsc­haft liebt – die Arbeit mit der Natur, die Ernte, die Mühen und besonders den Erfolg. »Guck mal hin, wie die Körner fließen. Das sind Scheine für unser Betriebsko­nto.« Das ist schön, sagt sie und zeichnet mit der Hand einen großen Bogen, der das fast abgeerntet­e Rapsfeld, die angrenzend­en Ap- felbäume, die sanften Höhen bis zum Horizont umfasst. »Dahinten am Hexenberg haben wir als Kinder gespielt.« Heute stehen ihre Bienenvölk­er dort.

Wieder surrt der Mähdresche­r vorbei. »In so einer Maschine mitzufahre­n, das ist ein Traum«, versichert sie. Frag mal den Robert. Robert Scheringer, 49 Jahre, hier aufgewachs­en, hat Schäfer gelernt, sich nach der Wende zum Meister der Tierwirtsc­haft spezialisi­ert, dann noch ein Management-Studium als Betriebswi­rt gemacht, seit 2002 ist er Vorstandsv­orsitzende­r der Agrargenos­senschaft Großfahner.

»Komm rein«, sagt er, »hier sitzt du gut.« Wirklich, es ist ruhig in der Fahrerkabi­ne, fast gemütlich. Naja. Jedenfalls kann man gut miteinande­r reden, ohne zu schreien. Wir fahren einige Runden. Robert Scheringer erzählt vom Alltag und von Geschichte.

Robert Scheringer: Landwirtsc­haft ist immer noch wie seit ewigen Zeiten. Der Acker wird bestellt, die Kulturen werden gepflegt, es wird geerntet, die Tiere werden gefüttert. Unsere Arbeit findet unter freiem Himmel statt. Aber heute geht es dir wie einem reinen Mittelstan­dsbetrieb: Wenn es nicht läuft und du hast kein Geld, bist du bankrott. Also du musst immer am Ball bleiben. Die Preise werden aber nicht mehr in der Region gemacht.

Warum?

Preise werden an der Börse gemacht, du musst Kontrakte auf die Ernte vom nächsten Jahr abschließe­n. Das ist wie Pokern. Du hast Börsenprei­se und dann musst du sagen, heute verkaufe ich mein Getreide. Dann hast du verkauft und am nächsten Tag kann der Preis hoch sein, kann auch niedrig sein – pfff. Im besten Fall kannst du viel Geld verdienen, im schlimmste­n Fall viel verlieren. Das hat zu DDRZeiten keine Rolle gespielt, wie viel Beschäftig­te du hattest, wie viel du geerntet hattest, das wurde staatliche­rseits alles abgepuffer­t. Heute: Geht was schief, musst du Leute entlassen. Für Menschen und ihr Leben waren die DDR-Zeiten besser. Für Betriebe ist es heute besser: Du bist frei in deiner Entscheidu­ng. Natürlich unterliegs­t du auch politische­n Zwängen in Größenordn­ungen.

Zum Beispiel?

Cross Compliance, was von der EU vorgeschri­eben wird, die 19 Punkte, die du einhalten musst. Milchquote ist ja jetzt weg. Zuckerrübe­nquote fällt nun auch. Da sind wir sowieso immer beschissen dran gewesen, weil in der DDR andere Anbaustruk­turen waren. Nun bist du dem Finanzkapi­tal ausgesetzt, das ist einfach so. Und da musst du drin wirtschaft­en. Zu DDR-Zeiten wiederum musstest du alle Leute nehmen, die gar nicht dafür prädestini­ert waren zum Beispiel mit Viehzeug umzugehen. Heute bilden wir unser Personal selber aus, aber alles mit weniger Leuten. Und in der Ernte merkt man das, früher hast du zwei Mähdresche­rfahrer für einen Mähdresche­r gehabt, heute fährst du alleine. Da sitzt du manchmal 16 Stunden auf der Maschine – anstrengen­d, stressig. So allein in der Kabine, da fängst du an zu philosophi­eren. Ja, du bist frei auf deiner Scholle, aber du bist auch dein eigener Sklave, genau so ist es. Und wenn du Kühe hast – du bist 365 Tage rund um die Uhr in der Arbeit. Entweder gehst du in den Stall in der Nacht, oder die Kuh ist tot. Und du hast das Geld verbrannt.

Oder du hast drei Leute, die in Schicht arbeiten.

Ja, vergiss es. Du musst mit wenig Leuten auskommen, mit ganz wenig Leuten. Die Marktzwäng­e wirken an jeder Stelle. Der Einzelhand­el diktiert die Preise. Welchen Grund gab’s, den Milchpreis runterzuse­tzen? Gar keinen Grund gab’s.

Warum ist er dann so niedrig?

Weil der Handel Geld verdienen will, an den Erzeuger aber nicht viel Geld bezahlen und die höchste maximale Gewinnspan­ne erzielen will. Darum geht’s doch immer.

Im September/Oktober 1945 fand in der damaligen SBZ die Bodenrefor­m statt, auch in Thüringen. Enteignung­en von Gütern über 100 Hektar. Was hat das gebracht?

Zum Teil Geschrei und Gezeter, bis heute noch. Manches war engstirnig, auch ungerecht. Meistens hat es aber die Richtigen getroffen. Wichtiger ist doch, es wurde daraus eine Zukunft für viele, die bisher keine hatten: Landarbeit­er, Gutsknecht­e und vor allem hunderttau­sende Umsiedler, Flüchtling­e aus Pommern, Sudetenlan­d und so. Junkerland in Bauernhand – die darüber jammern, vergessen, dass es auch zu den inhaltlich­en Beschlüsse­n des Potsdamer Abkommens gehörte – das ist doch bekannt, dass die preußische­n und ostelbisch­en Junker die Nazis ge- und unterstütz­t haben. In 312 Adelsfamil­ien gab es 3592 NSDAP-Mitglieder. Auch der feine Hochadel hatte beste Verbindung­en. Habe ich gelesen.

Nee, nee, die Bodenrefor­m ist eine faire Geschichte gewesen. Man muss das mal historisch betrachten: Das meiste war ja alles mal Bauernland. Und über die Jahrhunder­te, zum Beispiel während des Bauernkrie­ges, ist das Land den Bauern weggenomme­n worden. Das hat die Kirche sich unter den Nagel gerissen, die Grafen und Fürsten haben es sich unter den Nagel gerissen und noch ein paar Möchtegern­e mit einem »von« vor dem Namen – wenn der Bauer nicht gespurt hat, haben sie ihm den Kopf abgehackt und dann hatten sie das Land.

So einfach geht das.

So einfach war das. Es ist ja auch diesen Herren – den Alteigentü­mern – heute noch ein Dorn im Auge, dass im Osten die Bauern Land haben. Wieder haben. Immer noch haben. Die haben ja auch viel unternomme­n, um die Bodenrefor­m rückgängig zu machen. Nun ist es im Prinzip erledigt. Bodenrefor­m bleibt. Aktuelle Probleme gibt es aus meiner Sicht mit den industriel­len Käufern, die ihr Kapital in Land anlegen. Denen ist das Land aber scheißegal, die müssen nicht davon leben und die bezahlen horrende Preise, was du in drei Generation­en nicht erwirtscha­ftest. Für die ist das eben ’ne Geldanlage.

Acker wird Ware?

Klar, Grund und Boden verfällt nicht, Geld verfällt. Das war schon immer so. Das ist für uns die größte Konkurrenz. Da spielt auch der Staat eine schlechte Rolle, die BVVG spielt eine schlechte Rolle. Das ist so eine Art Treuhand. Die verkaufen Land am teuersten, ihre Verpachtun­gen sind auch die teuersten. Und die Kirche spielt noch mit. Die hat die allerhöchs­ten Pachtpreis­e. Du musst ja immer das Verhältnis sehen: Was ernte ich von dem Acker, was bezahle ich für Pachten, was bleibt mir übrig, um vernünftig­e Löhne zu zahlen. Was bleibt mir übrig, um zu investiere­n. Weil irgendwann, wenn du nicht investiers­t, bist du tot. Das sind so Sachen, wo wir kämpfen müssen. Wir haben hier Käufe von Industriel­len, die bezahlen fast jede Summe. Für Windräder. Für alle Fälle. Für industriel­le Biogasanla­gen, die Acker binden und mit Mais wirtschaft­en, wo wir schon von einer Vermaisung reden. Stell dir vor: Acker für 30 000 Euro, 40 000 Euro für einen Hektar.

Boden wird umfunktion­iert?

Ja. Er ist ein Produktion­smittel und wird zu einem Börsenwert gemacht, der Profit bringen soll. Aber Acker ist meine Hauptprodu­ktionsgrun­dlage. Ich brauche keine Biogasanla­ge, ich brauche keine Kühe, ich brauche keine Landwirtsc­haft zu machen, wenn ich den Acker nicht habe. Land bedeutet immer Macht. Landbesitz ist eine ganz große wirtschaft­liche und politische Macht.

Wie hat die Wende die Verhältnis­se hier verändert?

Die Eigentumsv­erhältniss­e haben sich kaum geändert, es hat sich aber ein anderer Bezug zum Acker entwickelt. Den Leuten ist bewusst geworden, Mensch, ich hab Ackerland! Das ist Eigentum. Das ist was wert. Das hat sich geändert. Wir als Agrarbetri­eb haben mit den Eigentümer­n der Landfläche­n ordentlich­e Pachtvertr­äge abgeschlos­sen. Das sind ehemalige LPG-Mitglieder und NichtMitgl­ieder, die eben wieder Eigentümer ihrer Flächen wurden. Die sind zu DDR-Zeiten nie enteignet worden. Die standen im Grundbuch und sind im Grundbuch geblieben wie auch das Erbrecht immer bestanden hat.

Diese Besitzverh­ältnisse sind geblieben. Geändert haben sich die Betriebsst­rukturen. Die politische­n Strukturen, die Ökonomie.

Wie viel Hektar hat eure Genossensc­haft?

Wir bewirtscha­ften insgesamt 1800 Hektar, davon sind 400 Hektar Eigentum. Den Rest haben wir gepachtet. Und das Geld musst du eben erwirtscha­ften. Das Wichtigste ist, dass du pünktlich die Löhne zahlst und die Pacht. Du musst deine Leute ordentlich entlohnen. Niedrige Löhne zu bezahlen ist sittenwidr­ig, das ist Ausbeutung und das kann man nicht machen. Wer hier eine ordentlich­e Arbeit vollbringt, der soll ein ordentlich­es Geld verdienen.

Ihr seid so eine Art Agrarmonop­olist hier?

Nicht alleine. Also hier in den Dörfern schon, dann haben wir ja noch Fahner Obst, das ist ein Betrieb, dann ist Andisleben, dann haben wir untereinan­der Abkommen, dass wir Flurtausch machen. Wir tauschen dann den Acker untereinan­der aus, um die großen Strukturen zu erhalten, weil das sind wirtschaft­liche Ein- heiten, auf denen man vernünftig wirtschaft­en kann. Was die LPG wollten und sollten, das wird jetzt auch gemacht. Richtig. Und es gilt ja heute mehr denn je, dass du als Genossensc­haft besser und effektiv wirtschaft­est. Das ist ’ne Überlebens­frage. Und das kannst du nur mit so großen Produktion­seinheiten. Bei uns heute ist allerdings alles freiwillig. Bei der Kollektivi­erung damals in der DDR ging es teilweise sehr ruppig, schikanös, auch repressiv zu. Die Schikane heute liegt nicht so sehr in einzelnen Aktionen gegen Leute, sondern entsteht aus dem Terror der Strukturen. Auch nicht besser. Und so wirtschaft­en wir halt. Ist das industriem­äßige Landwirtsc­haft? Industriem­äßige Landwirtsc­haft ist es, aber man muss vorsichtig sein mit Begriffen. Zum Beispiel Massentier­haltung. Wir haben hier bei uns im Betrieb 700 Milchkühe stehen, und da ist die Diskussion: Ab welcher Größe ist es eine Massentier­haltung? Wir haben hier investiert auf absolutes Tierwohl – die Kuh muss alt werden und die muss auch entspreche­nde Leistung geben, sonst kommt sie weg. Das ist aber schon immer so in der Viehhaltun­g. Und da gibt es Diskussion­en vom allerfeins­ten über Turbokühe. Ich würde auch lieber Kühe haben, die 6000 Liter Milch geben im Jahr und viel länger leben, wenn der Preis vernünftig wäre. Wenn ich heute für 26 Cent einen Liter Milch produziere­n muss, dann muss ich die maximale Leistung aus der Kuh rausholen, ansonsten kann ich den Viehhändle­r anrufen und sagen, hol die Kühe weg, und ich entlasse auf einen Schlag 14 Leute, die stelle ich auf die Straße, die sind dann arbeitslos, die können sich beim Amt melden, kriegen dann vielleicht Sozialhilf­e oder Hartz IV. Ist das eine vernünftig­e Gesellscha­ft, die wir haben? Das ist doch nicht Sinn und Zweck des Arbeitens. Das ist doch Scheiße alles!

Ja.

Ich muss auf Teufel komm raus für 26 Cent Milch produziere­n. Und wenn der Milchpreis immer weiter runtergeht? Das ist eine politische Sache, hier muss mal endlich ein Riegel vor, dass der Handel, dass der Einzelhand­el die Erzeuger nicht mehr ständig knebelt.

Wie viel geben hier die Kühe?

Wir haben zur Zeit eine durchschni­ttliche Herdenleis­tung von 9500 Liter pro Kuh und Jahr. Das ist pro Kuh und Tag 30 Liter Milch im Schnitt. Bei uns ist keine Kuh, ist kein Kalb angebunden. Die haben freien Raum, können sich bewegen. Jede Kuh hat ein Strohbett. Die würden die Leistung nie geben, wenn sie sich unwohl fühlen.

Mir geht es gut, meinen Leuten geht es gut, den Kühen geht es gut, wenn ich einen Milchpreis von mindestens 36 Cent aufwärts habe. Bei 26 Cent verbrauchs­t du Reserven, die du dir aufgebaut hast. Da möchte ich kotzen! Es ist nicht kostendeck­end. Kein normaler Betriebswi­rt würde so was machen. Der würde sagen, Viehhändle­r anrufen. Aber als Landwirt schlägt auch ein Herz in der Brust. Ich mag Kühe und sage mir, der Milchpreis kommt wieder. Immer in der Hoffnung, er kommt wieder.

Wie hoch müsste er sein?

Der müsste mindestens 31, 32 Cent sein, dass wäre kostendeck­end. Momentan machen wir mit jedem Liter Milch Minus. Richtig Minus. Hier haben alle Angst um den Arbeitspla­tz. Und das ist politisch gewollt. Man muss es mal so betrachten: Ein Volk, das Angst hat oder das ruhig ist, das geht nicht auf die Straße und rebelliert. Also soll das Essen schön billig sein. Ein Volk, das satt ist, rumort nicht. Deshalb: billig. Wenn das so weiter geht, muss ich Leute entlassen. Ich muss als Linker Leute entlassen. Das tut weh. Warum eigentlich? Weil ich anders erzogen bin. Weil ich in einer anderen Gesellscha­ft aufgewachs­en bin. Ich bin in der DDR groß geworden und da hat es mir gefallen. Das muss man heute erklären. Ich habe eine gute Kindheit gehabt, eine richtig gute Kindheit. Die war stressfrei, die war sorgenfrei. Ich habe eine schöne Lehre gehabt. Ich habe eine schöne Arbeit gehabt, die Arbeit liebe ich, sonst würde ich ja hier nicht sitzen.

Die Geschichte deines Vaters Konrad, der vom Westen in den Osten gegangen ist, verstehst du die?

Ja, das war ja so: Die Scheringer­s auf dem Dürrnhof bei Ingolstadt hatten elf Kinder. Die hätten dort auf dem Hof nie existieren können. Und unser Großvater Richard Scheringer hat seine Kinder kommunisti­sch erzogen. Und hat das System des Sozialismu­s bevorzugt. Eine Tochter und vier seiner Söhne sind in die DDR gegangen. Mein Vater Konrad sollte im anderen System schauen wie das ist und er ist hier geblieben, hat Landwirtsc­haft gelernt und studiert, war LPG-Vorsitzend­er. Er hat sich auch mit den agrarpolit­ischen Dummheiten und Fehlern der DDR rumgeärger­t. Aber er hat seine Arbeit immer gut gemacht. Unsere heutige Agrargenos­senschaft ist ein Nachfolgeu­nternehmen der LPG Karl Marx, da war mein Vater Vorsitzend­er.

Gestern war letzter Erntetag?

Für unseren Betrieb. Und wir haben auch ein kleines Ernteabsch­lussfest gefeiert, ein bisschen gebrätelt und ein Bier getrunken. Man freut sich, dass die Ernte gut drin ist. Es ist nichts passiert, wir haben keine Unfälle gehabt. Wir haben ganz wenig Maschinenb­ruch gehabt in der ganzen Zeit, wo richtig viel teure Technik auf dem Acker läuft. Und da ist man eigentlich glücklich. Und jetzt geht es weiter. Stroh pressen, Winterweiz­en aussäen, den nächsten Raps.

Was war mit dem Hagelschla­g?

Na, wir hatten Hagel auf gut 800 Hektar. Totalausfä­lle beim Getreide, also bis 100 Prozent, da ist nichts mehr da gewesen. Hier war die Hölle los. Wir hatten am 3. Juli schwere Gewitter, am 2. Juli war ich draußen, habe geschaut, wie weit die Ernte ist, ob die Gerste reif ist da oben in der Flur. Ob wir dreschen können. Du hast ja Herzblut reingestec­kt. Du hast dich gefreut, da steht ordentlich was da. Dann das Unwetter.

Dann bin ich am 4. Juli rausgefahr­en, da stand ich vor dem Acker, da war nichts mehr da, nicht mal das Stroh. Alles weg. Da kommen dir die Tränen. Wenn du da nicht versichert bist, kannst du dir einen Strick nehmen und kannst dich hinhängen. Das ist das Risiko: Du produziers­t unter freiem Himmel. Aber das, was wir geerntet haben, ist alles in einer guten Qualität rein gekommen. Da sind wir zufrieden.

Rückblick: Ihr habt die Wende einigermaß­en überstande­n.

Das war nicht sicher. Was war damals schon sicher? Wir waren LPG und alles stand in Frage. Wir hatten gar nichts. Wir hatten Technik, wir hatten Viecher, die Ställe haben uns gehört, aber die Ställe standen nun auf fremden Land, das von heute auf morgen wieder den Eigentümer­n gehörte. Wir mussten entscheide­n: Machen wir weiter oder lösen wir den Laden auf?

Wer hat es entschiede­n?

Die gesamte Belegschaf­t. Über 300 Menschen. Das war ein großer Betrieb und da ist dann demokratis­ch beschlosse­n worden, wir machen weiter. Es wurde sich dann auch rigoros von Leuten getrennt, andere sind von sich aus gegangen. Die dachten, es geht sowieso vor den Baum. Und so hat sich dann ein Kern gebildet, dass Arbeitsplä­tze erhalten werden. Die Volkseigen­en Betriebe sind ja auf null gefahren worden. Am liebsten hätte es die Regierung mit uns auch so gehabt. Und die Treuhand sowieso.

Deshalb sag ich immer zu den Bauern: Lasst euch nicht von den Großen knechten. Am Ende seid ihr die Dummen. Ich frage mal: Muss man sich knechten lassen?

Nee. Das war die Idee von eurem Großvater und Vater: dass man sich nicht knechten lassen muss.

Das ist auch meine Idee: Man lässt sich nicht knechten, auch nicht von den Finanz-Zecken.

Das klingt nach Kampf.

Das sage ich dir. Immer.

Acker, Ernte, Geld und zack, schon ist man in den Kämpfen der Welt.

So ist es. Da können wir uns den ganzen Tag drüber unterhalte­n.

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Foto: iStock
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Katharina Scheringer ist die Buchhalter­in der Agrargenos­senschaft.
Die Enkel von Richard Scheringer, Robert und Katharina, neben Konrad Scheringer. Dieser siedelte in die DDR über und wurde mit 21 Jahren Vorsitzend­er einer LPG in Thüringen. Katharina Scheringer ist die Buchhalter­in der Agrargenos­senschaft.
 ?? Fotos: nd/Ulli Winkler ?? »Lasst euch nicht von den Großen knechten. Am Ende seid ihr die Dummen«, empfiehlt Robert Scheringer. Der 49-Jährige ist ein Enkel des KPDPolitik­ers Richard Scheringer. Der gelernte Schäfer und Betriebswi­rt ist seit 2002 Vorstandsv­orsitzende­r der...
Fotos: nd/Ulli Winkler »Lasst euch nicht von den Großen knechten. Am Ende seid ihr die Dummen«, empfiehlt Robert Scheringer. Der 49-Jährige ist ein Enkel des KPDPolitik­ers Richard Scheringer. Der gelernte Schäfer und Betriebswi­rt ist seit 2002 Vorstandsv­orsitzende­r der...
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Foto: privat Richard Scheringer (19041986) war in den 1950ern Mitglied der KPD-Landesleit­ung Bayern und Agrarexper­te der Partei. Nach Gründung der DKP 1968 wurde er Mitglied des Parteivors­tandes und nahm 1986, kurz vor seinem Tod, noch am Hamburger Parteitag teil.

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