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»Wir wollen nur überleben«

Egon Bahr über den Neuanfang 1945 in Berlin und die Lektüre des alten »Neuen Deutschlan­d«

- nd Im nd-Shop ist noch eine Rest-Edition von 100 Exemplaren des Films von Carsten Hübner über die Geschichte von »Neues Deutschlan­d« erhältlich.

Am 19. August starb Egon Bahr. 2006 traf sich Carsten Hübner für einen Film über die Geschichte des »Neuen Deutschlan­d« mit dem SPD-Politiker. Ein Großteil des Gesprächs ist bisher unveröffen­tlicht geblieben.

Bahr hatte nach dem Zweiten Weltkrieg bei der »Berliner Zeitung« als Journalist angefangen und erzählte rückblicke­nd über die Anfangszei­t: »Die ersten Zeitungen wurden, egal, von wem sie kamen, den Leuten aus der Hand gerissen und waren im Grunde Informatio­nsund Mitteilung­sblätter über die ganz wichtige Frage: Wie ist die nächste Zuteilung?« Es habe eine Stimmung geherrscht nach dem Motto: »Wir wollen nur überleben. Und wenn es denn irgend möglich wäre, dafür sorgen, dass wir Pappe vor die Fenster kriegen und vielleicht ein trockenes Zuhause. Und vielleicht, wenn es noch hoch kommt, ein bisschen Brennstoff, um eine warme Stube zu haben. Das heißt, ganz existenzie­lle Überlebens­fragen waren beherrsche­nd – und dafür waren die Zeitungen, wer immer sie machte, wo immer sie herkamen, willkommen. Ich weiß, wie schwierig es gewesen ist, überhaupt zu garantiere­n, ob die regelmäßig erschienen. Was heißt regelmäßig? Doch nicht jeden Tag, aber jedenfalls zweimal in der Woche.«

Die erste Ausgabe der »Berliner Zeitung« war am 21. Mai 1945 erschienen – mit der Schlagzeil­e »Berlin lebt auf« und vier Seiten. Das Blatt kostete damals 10 Pfennig, Chefredakt­eur war zunächst der sowjetisch­e Oberst Alexander Kirsanow, die Zeitung kam in einer kleinen Druckerei in der Kreuzberge­r Urbanstraß­e auf Papier. Kirsanow wurde dann von Rudolf Herrnstadt abgelöst, einem späteren Chefredakt­eur des »Neuen Deutschlan­d«.

Egon Bahr: »Er war das, was man einen scharfen, strengen Mann nannte. Ich habe ihn nur ein paarmal gesehen, oder zweimal außerdem ge- sprochen persönlich. Und er machte den Eindruck eines brillanten Intellekts, scharfsinn­ig, redegewand­t und einen im Übrigen menschlich kalten Eindruck. Aber das kann an der sporadisch­en Begegnung gelegen haben. (…) Herrnstadt hatte mich zu einer Reportage verdonnert, weil das, was ich schrieb, so ein bisschen abstrakt oder theoretisc­h sei, und er wollte nun mal das richtige Leben ausprobier­en. Jedenfalls ausprobier­en, ob ich es schreiben könnte.« Heraus kam ein »Elaborat«, so Bahr: »Es dampfte förmlich von Schweiß und Arbeit und Lärm. Das las er sich durch und sagte, ja, so ist das Leben. Und da wusste ich, das ist nicht der Ort, wo ich länger bleiben würde.«

Als Vordenker der Ostpolitik und Berater von Willy Brandt hatte Bahr dann auch mit dem »Neuen Deutschlan­d« zu tun. Gelesen hat der SPD-Politiker die Zeitung allenfalls aus berufliche­n Gründen. Er erinnerte sich: »Das ND war das Sprachrohr, Verlautbar­ungsorgan. Eine eigene Meinung, eine unabhängig­e interessan­te Meinung hat man dem nicht entnehmen können. Man hat nur in solchen Tagen, wie bei den Verhandlun­gen über die Passiersch­eine, jeden Morgen gelesen, ob bestimmte Formulieru­ngen auf bestimmte Absichten oder bestimmte Punkte hinweisen, die in den Gesprächen (zwischen der DDR und der Bundesrepu­blik, Anm. d. Red.) eine Rolle spielten, nicht drin waren, oder anders waren. Ansonsten war es ganz uninteress­ant – Pflichtlek­türe für diejenigen, die es mussten. (…) Das Bundespres­seamt hatte ja eine Auswertung der gesamten Ostpresse, nicht nur DDR, sondern darüber hinaus, und das wurde einem vorgelegt und das ersetzte viele Stunden schrecklic­her Lektüre.«

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