Eine schöne Zeit war das nicht
In der Flüchtlingsdebatte wird oft von einer »Völkerwanderung« gesprochen. Doch das Asylrecht sollte nicht mit Kriegszügen antiker Heerführer in Verbindung gebracht werden.
Als sich im Sommer des Jahres 376 an der Donaugrenze im heutigen Bulgarien unzählige vor dem Krieg fliehende Goten, unter ihnen etwa 10 000 Bewaffnete, versammelten und darum baten, ins Römische Reich aufgenommen zu werden, »hoben die erfahrenen Schmeichler das Glück des Kaisers hoch in den Himmel«, berichtete der Historiker Ammianus Marcellinus. Denn Rekruten und Steuerzahler brauchte das Reich immer, die »receptio«, die Einwanderungsbewilligung, wurde auch dieses Mal gewährt. Unüblich war, dass der oströmische Kaiser Valens es einer größeren Gruppe fremder Krieger gestattete, geschlossen zu siedeln – vermutlich weil er zu viele Truppen für die Konfrontation mit Persien brauchte und keine Verstärkungen an die Donau schicken konnte. Die Goten rebellierten, andere Heerführer führten ihre Truppen ins Römische Reich und drangen bis nach Nordafrika vor. Im Jahr 476 wurde der letzte weströmische Kaiser abgesetzt.
Diese Ereignisse, als deren Schlusspunkt die langobardische Invasion in Italien im Jahr 568 betrachtet wird, werden in Deutschland – und nur in Deutschland – als Völkerwanderung bezeichnet. Dieser Begriff wird in der Flüchtlingsdebatte nun von zahlreichen deutschen Medien und Politikern aufgegriffen. »Machen wir uns nichts vor, es geht um Völkerwanderung«, sagte der thüringische Ministerpräsident Bodo Ramelow (LINKE), ausnahmsweise übereinstimmend mit seinem bayerischen Amtskollegen Horst Seehofer (CSU): »Wir haben es hier mit einer großen Völkerwanderung zu tun. Das kann doch niemand mehr bestreiten.«
Man kann, ja muss dies bestreiten. Selbst wenn der Begriff, wie es bei Politikern der Linkspartei zu hoffen ist, nur gedankenlos benutzt wird, setzt er Unbewaffnete, die ein Menschenrecht in Anspruch nehmen, mit einer kriegerischen Streitmacht gleich. Er weckt eindeutige Assoziationen. Im rechtspopulistischen und rechtsextremen Milieu ist es seit langem üblich, in Flüchtlingen und Migranten Invasoren zu sehen, die sich anschicken, ein weichlich gewordenes Europa zu erobern. Auch in der gemäßigten Version bedeutet die Asylgewährung das Ende der europäischen Zivilisation. »Europa kann unmöglich diese anschwellende Völkerwanderung einfach laufen lassen, ohne sich auf Dauer selbst aufzugeben«, schreibt Wolfram Weimer im »Handelsblatt«. »Die gesamte Architektur von Sicherheit, Kultur und Identität gerät ins Wanken.«
In Wahrheit ist es der rassistische Mob, der die Sicherheit gefährdet, und es ist nicht ersichtlich, wie in Notunterkünften eingepferchte Flüchtlinge die Deutschen daran hindern sollten, durch die Lektüre von Goethe und Kant oder auch ausgiebigen Bierkonsum mit Volksmusikbegleitung ihre Kultur und Identität zu pflegen. Wer die Wahrnehmung eines Menschenrechts als existenzielle Bedrohung darstellen möchte, kann sich allerdings auch schwerlich mit Fakten befassen. Der Bezug auf nationalistische Mythen hingegen ist geeignet, beim geneigten Publikum, das die aktuellen und historischen Fakten ebenso ungern zur Kenntnis nimmt, die gewünschten Assoziationen hervorzurufen.
Der Begriff »Völkerwanderung« wurde mit dem Aufkommen des deutschen Nationalismus im 19. Jahrhundert populär. Tugendhafte und kriegstüchtige »Germanen« – in der Antike benutzten nur die Römer diese Bezeichnung – , so die auch im Nationalsozialismus eifrig propagierte Interpretation, hätten sich eines moralisch heruntergekommenen Reiches bemächtigt. Es gibt also auch eine gute Nachricht für die Nachbarn Deutschlands: Die Germanen des 21. Jahrhunderts wollen nicht mehr »wandern«. Vielmehr identifizieren sie sich nun mit dem Römischen Reich. Die zwangsläufige Schlussfol-
Flüchtlinge hin, Völkerwanderung her: Exzessives Wandern betreibt der Deutsche derzeit nur auf dem Kulturwanderweg.
gerung aber ist, dass »wir« wieder kriegstüchtiger werden müssen und bei Strafe des Untergangs nicht zu weich gegenüber Flüchtlingen und (hier wird meist nicht unterschieden) Migranten sein dürfen.
Aber wurde Rom tatsächlich »überfremdet«? Waren die Römer zu dekadent geworden, um sich der »barbarischen Invasionen« (so die außerhalb Deutschlands traditionell geläufige Bezeichnung für die »Völkerwanderung«) zu erwehren? Was zum Ende der Antike führte, ist weiterhin ein umstrittenes Thema in der Geschichtswissenschaft, einige Fakten aber sind mittlerweile gesichert. So war das Römische Reich im 4. und 5. Jahrhundert gut gerüstet, die Truppenstärke war mindestens 50 Prozent, vielleicht auch 100 Prozent höher als im 1. Jahrhundert. Doch war mit dem Reich der Sassaniden eine neue Supermacht an der Ostgrenze aufmarschiert, und noch im frühen 5. Jahrhundert hätte bei einer Meinungsumfrage wohl jeder gebildete Römer gesagt, die Perser seien eine gefährlichere Bedrohung als die Germanen. Ostrom aber überlebte bis 1453.
Bereits diese Tatsache widerlegt die noch immer beliebte These, »spätrömische Dekadenz« habe zum Untergang geführt – dies hätte ja alle Teile des Reiches gleichermaßen be- treffen müssen. Gewiss, die reichen Römer ließen es sich gut gehen. Aber das taten sie schon seit Jahrhunderten, begleitet von empörten Klagen der Moralisten. Die »Dekadenz« machte sogar einen Teil der Stärke des Römischen Reiches aus, das längst kein im ethnischen Sinne römischer Staat mehr war. Die Oberschicht in den eroberten Gebieten war integriert, und dies wurde dadurch erleichtert, dass man ihr eine zivilisatorische Verfeinerung bieten konnte, die außerhalb des Reiches nicht zu finden war.
Auch bei den »Barbaren« jenseits der Grenzen waren römische Luxuswaren begehrt. Rom bezahlte Klientelherrscher, um die europäischen Grenzen zu sichern, dies sowie Handel und Raubzüge führten zu einer Vermögenskonzentration, die es Heerführern ermöglichte, größere Gefolgschaften an sich zu binden. So wurden die Heere der »Germanen«, die nun auch über römische Waffen verfügten, schlagkräftiger. Dennoch hat wohl kein einzelner Heerführer mehr als 30 000 Krieger kommandiert. Um »Völker« handelte es sich nicht, auch wenn meist die Familien der Kämpfer und Unfreie mitmarschierten. Not, Beutegier, Zwang, Bestechung – es gab viele Motive, sich einem Feldzug anzuschließen, aber Patriotismus war ein unbekanntes Konzept. Viele Offiziere des Hunnenkönigs Attila waren Germanen, germanische Heerführer nahmen gern Kavalleristen aus Zentralasien in ihr »Volk« auf.
Eine schöne Zeit war es nicht. Die »Wanderungen«, wahrscheinlich ausgelöst durch Attilas Eroberungen, gingen mit der Ermordung oder Versklavung der Unterworfenen einher. Dies entsprach der römischen Praxis, den »Barbaren« waren aber auch die zivilisierteren Seiten Roms nicht fremd. Keiner der Heerführer wollte das Reich zerstören. Doch die Finanzierung der römischen Kriegsmaschine musste von einem zentralisierten Beamtenapparat gesichert werden. Je kleiner Westrom wurde – Ostrom hatte genug damit zu tun, sich selbst zu schützen –, desto schwerer waren die verbliebenen Gebiete zu verteidigen. Jede Eroberung in der sich über 100 Jahre erstreckenden Serie von Feldzügen erleichterte die nächste, und je weiter dieser Prozess voranschritt, desto eher war die einheimische Oberschicht bereit, sich den neuen Herren anzudienen.
Das Römische Reich war ein Agrar- und Sklavenhalterstaat, der Fortschritt nicht einmal als Konzept kannte und gänzlich anderen Entwicklungsgesetzen folgte als die ungleich dynamischere kapitalistische Klassengesellschaft. Wer dies bei der historischen Parallelisierung nicht beachtet, produziert bestenfalls Banalitäten, meist aber reaktionäre Zivilisationskritik. Rom wurde nicht durch eine zu großzügige Migrationspolitik zu Fall gebracht, das Reich wäre nie entstanden, wenn es sich nicht als Zivilisation verstanden hätte, an der man teilhaben konnte. Allerdings nur als Angehöriger der Oberschicht, so dass wohl 90 Prozent der Römer keinen Grund sahen, im Kampf zwischen gotischen und römischen Steuereintreibern Partei zu ergreifen. Rom musste untergehen, weil seine starre Klassen- und Standeshierarchie nicht entwicklungsfähig war.
Das bestenfalls dumme, meist aber perfide Geschwätz von der »neuen Völkerwanderung« ist das Symptom einer vergleichbaren Erstarrung. Der »Flüchtlingsstrom« wäre leicht zu bewältigen, wenn es den Verantwortlichen gelänge sich vorzustellen, sie hätten es mit wegen einer Überschwemmung obdachlosen Deutschen zu tun. An den materiellen Ressourcen für eine humanitäre Asyl- und eine globale Entwicklungspolitik mangelt es nicht. Doch statt sich Gedanken über die notwendigen gesellschaftlichen Veränderungen zu machen, ruft man nach einem höheren Limes und mehr Legionen.