Getarnt als Vogelkundler
Auf der Zimmerwalder Konferenz vor 100 Jahren diskutierten Europas Sozialisten Maßnahmen zur Beendigung des Weltkriegs.
Nur einen Steinwurf von der Hauptstadt Bern entfernt, aber abseits der großen Verkehrswege, auf rund 900 Meter Höhe auf dem Längenberg, liegt das pittoreske Schweizer Bauerndorf Zimmerwald. Genau diesen Ort, in dem Erholungssuchende die atemberaubende Aussicht, das gesunde alpine Klima, die Ruhe und Abgeschiedenheit genießen, wählte der Schweizer Sozialist und Kriegsgegner Robert Grimm für die von ihm organisierte, wohl bekannteste Antikriegskonferenz während des Ersten Weltkriegs aus.
Der heiklen und nicht ungefährlichen Angelegenheit angemessen – die Gefahr, dass Geheimpolizisten die Konferenz infiltrierten, war nicht von der Hand zu weisen – meldete Grimm in der ersten Septemberwoche des Kriegsjahres 1915 dem Hotel Beau Séjour und der Pension Schenk die Ankunft einer ornithologischen Reisegruppe. Allerdings saßen auf den Pferdefuhrwerken, die sich von Bern aus auf den Weg machten, keine biederen Vogelliebhaber, sondern die Avantgarde der europäischen Arbeiterbewegung.
Europas Sozialistinnen und Sozialisten, die sich mutig und konsequent gegen das gegenseitige Abschlachten stellten, passten im September 1915 in vier Pferdekutschen; insgesamt 38 Personen, zehn davon aus dem Deutschen Reich. Aber sie kamen auch aus fast allen Teilen des Kontinents. Lediglich Vertreter aus Großbritannien, die keine Pässe erhielten, aus der Habsburgermonarchie, aus Spanien, Portugal und dem von Deutschland besetzten Belgien fehlten. Immerhin 38 Personen muss es heißen, denn gut ein Jahr zuvor, im Sommer 1914, hatten noch alle europäischen sozialistischen Parteien, einschließlich der deutschen – eine rühmliche Ausnahme machte nur die Partito Socialista Italiano (PSI) –, in ihren Landesparlamenten den Kriegseintritt und die Bewilligung der dazu notwendigen Kredite nahezu geschlossen abgesegnet. Aber angesichts der stetig wachsenden Leichenberge und Millionen Verkrüppelter und Verwundeter bereits im ersten Kriegsjahr begann, zumindest im sozialistischen Lager, die Anzahl der sogenannten Sozialpatrioten sich langsam zu verringern. Man könne in der Praxis, im Gegensatz zur Theorie, nicht international und national zugleich sein. Organisator Robert Grimm verschickte seine Einladungen deshalb an alle Parteien, Arbeiterorganisationen oder Gruppen von ihnen, die auf dem Boden der alten Grundsätze und Beschlüsse der Internationalen verblieben waren und die bereit waren, gegen die Burgfriedenspolitik zu votieren und gegen den Krieg gerichtete Aktionen in ihren Ländern durchzuführen.
Trotzdem war natürlich, was sich dann am 5. September in Zimmerwald einfand, viel zu heterogen, um sich einig sein zu können. Bereits im Vorfeld der Konferenz wetterte der aus heutiger Sicht wohl bekannteste russische Emigrant in der Schweiz zu jener Zeit, Wladimir Iljitsch Uljanow, genannt Lenin, in einem Brief an den Journalisten Karl Radek: »Die Dreckkerle werden zusammenkommen, sagen, dass sie gegen die Politik des 4. August sind, dass sie für den Frie- den, gegen Annexionen und, und, und sind und werden somit der Bourgeoisie helfen, die revolutionäre Stimmung im Keim zu ersticken.«
Konsens unter den Teilnehmern bestand darin, dass dieser Krieg schnellstmöglich beendet werden musste. Aber wie dies zu geschehen hatte, auf revolutionärem oder auf parlamentarischem Weg, friedlich evolutionär oder durch Bürgerkrieg und Sturz der jeweiligen Monarchien in den kriegsteilnehmenden Nationen, das war die vorherrschende, die eigentliche Frage. Und hierüber redeten sich Kriegsgegnerinnen und -gegner von beiden Seiten der Fronten, zusammen mit den Delegierten aus den neutralen Staaten, an den vier Konferenztagen die Köpfe heiß. Endlich verstand man sich wieder ausschließlich als Internationalisten, als Teil der transnationalen Arbeiterbewegung. Und schnell war klar, dass die ideologischen Grabenkämpfe nicht entlang der nationalen Grenzen verliefen, sondern direkt durch die nationalen Delegationen, zum Beispiel die russische mit Sozialrevolutionären, Menschewiki und Bolschewiki oder die deutsche mit ihren Zentristen einerseits und den revolutionären Strömungen andererseits.
Karl Liebknecht, im September 1915 im Fronteinsatz und dennoch mit ganzer Seele bei den Genossen, forderte, obwohl selbst er sich im August 1914 dem nationalen Wahn nicht entziehen konnte, sich in einem Verteidigungskrieg zu befinden, in ei- nem Grußwort vehement: »Burgkrieg, nicht Burgfrieden«.
Zahlenmäßig waren Zentristen und grundsätzliche Pazifisten gegenüber den Linken, die sich um Lenin scharten, in der Mehrheit, aber auch untereinander waren sie sich, vor allem, als dann am dritten Tag die Friedensaktionen des Proletariats zur Debatte standen, alles andere als einig.
Es ist wohl dem von Lew Dawidowitsch Bronstein, genannt Leo Trotzki, zusammen mit Roland Holst verfassten Kompromissvorschlag zu verdanken, dass es noch zu einer Einigung, gekommen ist. Er trug den Stempel des Zentrums, denunzierte aber den imperialistischen Charakter des Krieges und postulierte einen »Frieden ohne Annexionen und Kriegsentschädigungen«. Die Linke wurde dadurch eingebunden, dass man ihre Vorbehalte ins Protokoll aufnahm. Das Zimmerwalder Manifest wurde einstimmig angenommen, worauf, wie es das Protokoll vermerkt, großer Jubel ausbrach und die Delegierten erst einmal die Internationale intonierten.
Aus heutiger Sicht liegt die Bedeutung der Zimmerwalder Konferenz sicher darin, dass sie Europas Kriegsgegner an einen Tisch brachte, um Maßnahmen zu diskutieren, wie das Töten beendet werden kann, während sich gleichzeitig die an die Front abkommandierten Soldaten der selben Nationen gegenseitig massakrierten. Das vor Ort verabschiedete Manifest entfaltete in Deutsch- land allerdings nur geringe Bedeutung. Die Presse der SPD-Mehrheitssozialisten berichtete negativ über die Konferenz. Positive Artikel erschienen nur in Clara Zetkins »Gleichheit« und August Thalheimers »Braunschweiger Volksfreund«.
Während Zimmerwald bis heute für die europäische Linke ein ganz wichtiger Erinnerungsort ist – in der ehemaligen UdSSR gab es sogar Zimmerwald-Straßen – stand in der Ortschaft selbst in den letzten hundert Jahren ein konsequentes Vergessenwollen im Vordergrund. Aus der internationalen Friedenskonferenz war hier eine »Kommunistenkonferenz von Bolschewisten« geworden. Man befürchtete, der Ort könne ungewollt zu einem kommunistischen Wallfahrtsort werden. Diese Befürchtung scheint heute offensichtlich gebannt. Zum hundertsten Jahrestag können Interessierte an zahlreichen Veranstaltungen teilnehmen.
Europas Sozialistinnen und Sozialisten, die sich mutig und konsequent gegen das gegenseitige Abschlachten stellten, passten im September 1915 in vier Pferdekutschen; insgesamt 38 Personen, zehn davon aus dem Deutschen Reich.
Am 4. und 5. September findet im Hotel Bern, Zeughausgasse 9, Bern (Schweiz) die wissenschaftliche Konferenz »Die Internationale Bewegung der Arbeiter und Arbeiterinnen gegen den Krieg!« statt. DiskutantInnen sind u. a. Gregor Gysi, Christian Koller, Peter Strutynski, Jakob Tanner und Bernard Degen. Empfehlenswert für weitere Informationen ist der am 1. September erscheinende Aufsatzband von Bernard Degen, Julia Richers (Hg.): »Zimmerwald und Kiental. Weltgeschichte auf dem Dorfe«. Chronos Verlag, 248 S., geb., 38 €.