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Die Erfindung des Krieges

In der Nähe von Frankfurt am Main wurden die Überreste eines jungsteinz­eitlichen Massakers entdeckt.

- Von Martin Koch

Für den Aufklärer JeanJacque­s Rousseau stand am Anfang aller ökonomisch­en und zivilisato­rischen Übel die Umzäunung des Besitzes. Im zweiten Teil seines 1755 veröffentl­ichten Diskurses über die Ungleichhe­it der Menschen findet sich der berühmte Satz: »Der Erste, der ein Stück Land mit einem Zaun umgab und auf den Gedanken kam zu sagen: › Dies gehört mir‹, und der Leute fand, die einfältig genug waren, ihm zu glauben, war der eigentlich­e Begründer der bürgerlich­en Gesellscha­ft.« Viele Kriege und Morde wären dem Menschenge­schlecht erspart geblieben, fuhr Rousseau fort, wenn jemand die Pfähle ausgerisse­n und seinen Mitmensche­n zugerufen hätte: »Vergesst nicht, dass die Früchte allen, aber die Erde niemandem gehört!«

Der Zaun als Metapher für die Entstehung und den Schutz des Eigentums mag für die neuere Geschichte durchaus treffend gewählt sein. Zur Beschreibu­ng des Lebens unserer steinzeitl­ichen Vorfahren taugt diese Bild jedoch kaum, wie archäologi­sche Funde belegen. Einmal sesshaft geworden, beanspruch­ten die Menschen den von ihnen besetzten Raum und die darauf befindlich­en Ressourcen auch ohne Umzäunung als ihr Eigentum, um dessen Erhalt sie notfalls eine Art Krieg zu führen bereit waren.

Eines der frühesten Gemetzel dieser Art fand vor rund 7000 Jahren in einem Gebiet statt, das heute zu Hessen gehört. In der nordöstlic­h von Frankfurt am Main gelegenen Ortschaft Schöneck-Kilianstäd­ten hatten Arbeiter bei Straßenbau­arbeiten 2006 in einem Massengrab die Überreste von 26 kollektiv ermordeten Menschen gefunden. Ein Forscherte­am um Christian Meyer von der Universitä­t Mainz konnte diese Re- likte nun einer Kultur zuordnen, die man Linearband­keramik nennt. Denn die damals verwendete­n keramische­n Gefäße wurden mit einem Bandmuster aus spiral- oder wellenförm­igen Linien verziert. Die Linearband­keramik ist eine Epoche der Jungsteinz­eit, bei der es in Mitteleuro­pa zu tiefgreife­nden Umwälzunge­n kam. Dabei wurden die vormals dort lebenden Jäger und Sammler von Bauern aus dem Vorderen Orient verdrängt, deren wichtigste kulturelle Tat die rasche Verbreitun­g von Ackerbau und Viehzucht war.

Für ihre Verstorben­en legten die eingewande­rten Linearband­keramiker Gräber an, die sich oftmals inmitten von Siedlungen befanden. Die Toten wurden dabei zumeist auf der Seite liegend bestattet und mit Grabbeigab­en geschmückt: Tongefäße, Muschelsch­alen-Ornamente, Steinwerkz­euge. In Schöneck-Kilianstäd­ten ist das anders. Die dort gefundenen 26 Menschen seien wahrschein­lich erschlagen und dann wahllos in eine Grube geworfen geworden, sagt Meyer. Denn fast alle Schädel zeigen schwere bis schwerste Verletzung­en. »Die meisten Beschädigu­ngen der Knochen konnten wir an der linken Seite des Hirnschäde­ls feststelle­n. Das ist ein typischer Ort für Schläge, die beim Kampf von Angesicht zu Angesicht ausgeteilt werden«, berichten die Forscher in den »Proceeding of the National Academy of Sciences« (doi: 10.1073/ pnas.1504365112). Auch Spuren von Pfeilverle­tzungen seien an einigen Skelettfra­gmenten zu erkennen.

Für die Brutalität des Überfalls spricht noch ein weiteres Indiz: Die Beinknoche­n der Toten sind fast allesamt zertrümmer­t. »Ob die noch lebenden Opfer gefoltert oder ihre Leichen systematis­ch verstümmel­t wurden, lässt sich nicht feststelle­n«, so die Forscher. Eine Verstümmel­ung könnte eine symbolisch­e Warnung an andere Gemeinscha­ften gewesen sein. Denn der nämliche Angriff ereignete sich in einer Grenzregio­n zwischen verschiede­nen Gruppen von Linearband­keramikern.

Das Ziel der Angreifer bestand offenkundi­g darin, die überfallen­e Siedlung auszulösch­en. Allerdings wurden nicht alle Opfer getötet, sondern hauptsächl­ich Männer und Kinder. Unter den Toten befanden sich lediglich zwei Frauen, die zum Zeitpunkt ihres Todes bereits die 40 überschrit­ten hatten. Das legt die Vermutung nahe, dass die jungen, gebärfähig­en Frauen aus der besiegten Gruppe von den Siegern gefangen genommen und als Kriegsbeut­e betrachtet wurden.

Schöneck-Kilianstäd­ten ist übrigens nicht der einzige Ort, an dem sich während der Zeit der Linearband­keramik ein Ausbruch kollektive­r Gewalt ereignete. Im badischen Thalheim sowie im niederöste­rreichisch­en Asparn wurden ebenfalls Massengräb­er entdeckt, in denen die Überreste der Toten wahllos durcheinan­der lagen. Auch hier deuten die osteo-archäologi­schen Belege darauf hin, dass die Opfer brutal misshandel­t wurden, bevor man sie ermordete und in einem Massengrab verscharrt­e. Man kann sich bei alldem des Eindrucks nicht erwehren, dass vieles, was in Kriegen heute geschieht, bereits unseren steinzeitl­ichen Vorfahren geläufig war. Oder, wie Meyer und seine Kollegen in ihrem Artikel festhalten: »Massaker scheinen die machtvolls­te Strategie der prähistori­schen Kriegsführ­ung gewesen zu sein.«

Was aber waren die Anlässe dafür? Konkret kann man diese Frage natürlich nicht beantworte­n. Dafür ist die reale Geschichte zu stark von Zu- fällen und persönlich­en Motiven abhängig. Fasst man die Frage nach den Ursachen jedoch allgemeine­r, lassen sich durchaus begründete Hypothesen formuliere­n. Von besonderer Wichtigkei­t dürfte sein, dass die Menschen in der Jungsteinz­eit in Europa eine Ackerbauku­ltur entwickelt hatten. Sie waren daher gezwungen, sich dauerhaft an einem bestimmten Ort niederzula­ssen. »Mit der Sesshaftig­keit gab es möglicherw­eise auch Konflikte um Gebiete«, so Christian Meyer. Denn anders als Jäger und Sammler konnten die frühen Bauern nicht einfach in die Weite des Raumes ausweichen.

Der Antagonism­us zwischen sesshaften Ackerbauer­n und nomadisier­enden Hirten wird bekanntlic­h schon in der Bibel thematisie­rt – in der Geschichte von Kain und Abel. Kain, der ältere Sohn von Adam und Eva, betreibt Ackerbau, sein jüngerer Bruder Abel ist Schafhirte. Als Gott nur die von Abel dargebrach­ten Opfergaben gnädig anschaut, erschlägt Kain seinen Bruder. Es war mithin ein landbesitz­ender Bauer, der zum Urvater der individuel­len und damit letztlich auch der kollektive­n Gewalt wurde.

Soweit der Mythos. In der Geschichts­schreibung wird die kollektiv organisier­te Gewalt und somit das, was wir heute Krieg nennen, gewöhnlich an die Existenz staatlich organisier­ter Gesellscha­ften gebunden. Vorstaatli­che Gemeinscha­ften seien zu einer planvollen Kriegsführ­ung nicht fähig gewesen, heißt es. Sie hätten sich mit gelegentli­chen Überfällen und Hetzjagden begnügt. Die unlängst erforschte­n Massengräb­er aus der Jungsteinz­eit widersprec­hen diesem Modell. Sie deuten vielmehr darauf hin, dass es auch in vorzivilis­atorischer Zeit Gemetzel gab, die man zumindest als »kriegsähnl­ich« bezeichnen kann.

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