Kaltland und seine Kritiker
Neue Angriffe gegen Flüchtlinge – aber auch viel Solidarität
Berlin. Ein CDU-Staatssekretär setzt die Antifa mit der NPD gleich. In Pasewalk werden Flüchtlinge attackiert, ebenso im saarländischen Lebach. Auf ein Linkspartei-Büro in Pirna wird ein Anschlag verübt. Die Scheiben eines Asylheims in Sachsen-Anhalt werden eingeworfen. Ein Elfjähriger wird in Berlin rassistisch beleidigt. Der Bürgermeister von Heidenau wird von Neonazis bedroht. Und das sind noch nicht einmal alle Schlagzeilen des Wochenendes in »Kaltland« – wie die Bundesrepublik wegen der Übergriffe gegen Flüchtlinge und des staatlichen Versagens gegen Rechts genannt wird.
Aber es gibt auch andere Meldungen. Allein in vier bayerischen Städten haben Hunderte gegen Neonazis und Rassisten demonstriert. In Eisenach gingen Menschen gegen einen NPDAufmarsch auf die Straße. In Dresden demonstrierten Tausende für Geflüchtete. Das ist das Gegen-Kaltland. Es lässt Bilder der Ausgelassenheit und Solidarität entstehen, wie in Heidenau bei einem spontanen Fest mit den Flüchtlingen am Samstagabend. Auf der anderen Seite immer neue Nachrichten von Gewalt und Hass. Ganz aktuelle unter anderem aus Heidenau sind nun auch als Beweise in das NPD-Verbotsverfahren eingebracht worden.
Derweil hat UN-Generalsekretär Ban Ki Moon angesichts der Not und des Leids der Flüchtlinge zum Handeln aufgefordert. Deren wachsende Zahl sei Ausdruck von Krieg und Unterdrückung. Und: »Es ist eine Krise der Solidarität, nicht der Zahlen«. Ende September soll es am Rande der UN-Vollversammlung eine Art Weltgipfel geben. Auch auf EU-Ebene wird ein Sondertreffen angestrebt, dazu forderten die Innenminister von Deutschland, Frankreich und Großbritannien auf. Ziel: Mehr Länder sollen »sichere« Herkunftsstaaten werden; und in Italien sowie Griechenland sollen ankommende Flüchtlinge praktisch schon voraussortiert werden. Das ist »Kaltland« in der EU-Variante: die Festung Europa. Ungarn hat gegen alle Kritik seinen Anti-Flüchtlings-Zaun an der Grenze zu Serbien fertiggestellt. Beim Vorgehen griechischer Behörden gegen ein Flüchtlingsboot starb ein 17-Jähriger. Und das sind längst nicht alle Meldungen des Wochenendes.
Menschen heißen Flüchtlinge willkommen. In Sachsen? So etwas gibt es. 5000 gingen am Samstag auf die Straße. Außer gegen randalierende Nazis richtete sich ihre Wut gegen die sächsische Landesregierung.
Es ist eine Szenerie, wie man sie kennt in Sachsen. Tausende Menschen ziehen durch die Straßen Dresdens und skandieren Parolen gegen die herrschende Flüchtlingspolitik. Nur diesmal sind es keine Nazis und Besorgte und sie machen auch keine Stimmung gegen Islamisierung und ihre neuen Nachbarn. »Say it loud, say it clear, refugees are welcome here« skandieren die Demonstranten. (Sagt es laut, sagt es klar, Flüchtlinge sind hier willkommen.) Zwischen all den Aufmärschen, Brandanschlägen und randalierenden Nazis hätte man fast vergessen können, dass es sie auch noch gibt. Menschen, die sich solidarisch mit Flüchtlingen erklären.
Rund 5000 waren dem Aufruf »Heute die Pogrome von morgen verhindern« des lokalen Bündnisses »Dresden Nazifrei« gefolgt. Busse und Züge aus Berlin, Jena, Hannover und Prag hatten die Aktivisten in die Hauptstadt der Pegida-Bewegung gebracht, um gegen die »sächsischen Zustände« zu protestieren, an denen Nazis, »Besorgte« und die Landesregierung jeweils ihren eigenen Anteil haben. »Es waren Antifaschisten, die den Nazis die Stirn geboten haben; die sich das Demonstrationsrecht zurückerkämpft haben, die Spielzeug nach Heidenau gebracht und die Hüpfeburg aufgeblasen haben«, sagte einer der Redner bei der ersten Kundgebung und meinte die rassistisch motivierten Ausschreitungen in Heidenau. Die Menge antwortete mit »Rassismus und Nazi-Dreck, es gibt nur eine Antwort: Ulbig muss weg!« Und meinte damit den sächsischen Innenminister Markus Ulbig, der schon am Abend zuvor von einer wütenden Menschenmenge vom Flüchtlingsfest in Heidenau vertrieben worden war.
Von dem in den Wochen zuvor allseits beklagten Polizeimangel war in Dresden an diesem Samstagnachmittag nichts zu spüren. Dutzende Mannschaftswagen und hunderte Bereitschaftspolizei begleiteten den Demonstrationszug vom Dresdner Hauptbahnhof zum Neustädter Bahnhof. Selbst die sehr vereinzelten Nazi-Provokateure entlang der Strecke hatte sie – wohl auch zu deren eigenem Schutz – schnell unter Kontrolle. Wir sind das Volk« skandierte ein Dutzend von ihnen am Rand der Demonstration. Dem Inhalt ihres Bollerwagens zu urteilen, könnten sie aber auch »Wir sind voll« gemeint haben.
Nicht nur der Umstand, dass dies eine der wenigen und winzigen Provokation blieb, sorgte dafür, dass die Demonstration oft mehr an ein mobiles Straßenfest als an eine linke Demo erinnerte. Unter einer strahlenden Sonne übertraf die Familienfraktion mit Kinderwägen, Fahrrädern und Seifenblasen zahlenmäßig jene mit schwarzem Halstuch unter schwarzem Pullover an der Spitze der Demo. Die Redebeiträge machten dann aber doch klar, worum es heute ging. »Auch dort wurden die Nazis nicht zurückgedrängt, auch dort wurden Antifaschisten verhaftet«, sagte einer der Redner als die Demo vor dem Dresdner Polizeipräsidium Halt machte und zog die Parallele zu den Ausschreitungen von Rostock-Lichtenhagen. Die Politik der sächsischen Regierung sei ein »Generalversagen mit System«. Die Konsequenz aus den 1990ern sei »eine militante und breit verankerte Neonaziszene«, die schließlich auch den NSU hervorgebracht habe.
Vor dem Neustädter Bahnhof kritisierte eine Rednerin der Interventionstischen Linken den »rassistischen Normalzustand«: »Was ist das für ein Staat, in dem von hunderten randalierenden Nazis keiner festgenommen wird, während nicht-weiße Menschen an jeder fucking Bushaltestelle kontrolliert werden«.
Ein paar hundert Demonstranten waren zu diesem Zeitpunkt noch übrig. Viele bereits auf dem Weg zur nächsten Demo in Heidenau. Die anderen standen vor der improvisierten LKW-Bühne, auf der gleich darauf Max Herre und die Berliner Hip-Hoper Chefket und Zugezogen Maskulin auftraten. Am Abend wippten nur noch wenige Demonstranten mit ih- ren Armen im Takt der Musik. Es ist eines der guten Zeichen, dass es nicht die Musiker waren, die die meisten Leute an diesem Tag angezogen hatten. Nicht das einzige an diesem Tag in Sachsen.
Ein weiteres gab es am Abend, als mehrere Hundert Demonstranten, die von der Demonstration in Dresden gekommen waren, in Heidenau gemeinsam mit den Flüchtlingen feierten, die hier in einem ehemaligen »Praktiker«-Baumarkt untergebracht sind. Nahe der Unterkunft hatte es in der letzten Woche Übergriffe von Neonazis auf Polizisten gegeben, die zur Sicherung des Heimes eingesetzt waren. Weil der Landkreis Sächsische Schweiz-Osterzgebirge befürchtet hatte, dass sich so etwas wiederholen könnte, hatte er ein Versammlungsverbot für das Wochenende verhängt. Das wurde jedoch nach einem juristischen Tauziehen am Samstag schließlich vom Bundesverfassungsgericht gekippt. Sachsens LINKE-Chef Rico Gebhardt sprach nach dem Hin und Her von einer Blamage für die sächsischen Behörden.