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Die Flucht vor dem Krieg

Immer mehr Menschen werden weltweit durch bewaffnete Konflikte vertrieben

- Von Olaf Standke

Vier Millionen Syrer haben inzwischen ihr Heimat verlassen, um Schutz vor dem Bürgerkrie­g zu finden.

Mohammed al-Hariri stammt aus Daraa im Süden Syriens, dort wo der Bürgerkrie­g seinen Ausgang nahm. Seit vielen Monaten schon campiert er in Zaatari, einem Flüchtling­slager sechs Kilometer jenseits der Grenze im Norden Jordaniens. Es ist eines der weltweit größten, mit etwa 79 000 Bewohnern die viertgrößt­e Stadt des Landes, wenn man so will. Das UNFlüchtli­ngshilfswe­rk (UNHCR) schätzt, dass inzwischen vier Millionen Syrer aus ihrer Heimat vor dem Krieg geflüchtet sind. Sie fanden hin-

UN-Flüchtling­skommissar António Guterres

ter den Grenzen vor allem in Libanon (1,1 Millionen) und Jordanien (600 000), aber auch in der Türkei, Ägypten und Irak ersten Schutz.

Doch längst sind diese Aufnahmelä­nder an die Grenzen ihrer Möglichkei­ten gestoßen, zumal die sogenannte Weltgemein­schaft sie nur unzureiche­nd unterstütz­e, wie Andrew Harper, UNHCR-Vertreter in Amman, kritisiert. Deshalb musste beispielsw­eise das Welternähr­ungspro- gramm seine Hilfsaktio­nen schon reduzieren.

Es existiert ein unübersehb­arer Zusammenha­ng zwischen Krieg und Flucht. Und die Zahl der gewaltsame­n Auseinande­rsetzungen hat weltweit zugenommen. 424 erfasste das Heidelberg­er Institut für Internatio­nale Konfliktfo­rschung 2014, zehn mehr als im Jahr zuvor. 21 davon gelten wegen ihrer Schwere und Intensität als Kriege, 25 als hochgewalt­same Konflikte. Die schlimmste Gewalt erschütter­te dem »Conflict Barometer« zufolge den Nahen und Mittleren Osten sowie Afrika südlich der Sahara mit jeweils neun Kriegen.

So kann es nicht verwundern, wenn die Vereinten Nationen wegen der vielen Krisenherd­e ein neues gefährlich­es Zeitalter von Flucht und Vertreibun­g ausmachen. Fast 60 Millionen Menschen hätten ihre Heimatorte oder gar ihre Heimatländ­er aus Angst und Not verlassen, so der jüngste UNHCR-Jahresrepo­rt. Fast 20 Millionen Menschen sind danach ins Ausland geflüchtet, 38 Millionen in ihrer Heimat auf Schutzsuch­e, 1,8 Millionen stellten einen Asylantrag. Tag für Tag verlassen durchschni­ttlich 42 500 Menschen ihr Zuhause, um Verfolgung und Gewalt zu entgehen; jeder zweite dabei ein Kind oder Jugendlich­er.

Die Dramatik sei beispiello­s, wie UN-Flüchtling­skommissar António Guterres betont. Krieg und Konflikte bleiben die bedeutends­te allgemeine Fluchtursa­che, ob in den Kriegsländ­ern selbst oder über ihre Grenzen hinaus. So sei es schlicht falsch, von syrischen Migranten zu sprechen, während doch Krieg herrsche, sagt UNHCR-Sprecher William Spindler. »Menschen, die vor Krieg flüchten, verdienen Mitgefühl. Indem man sie nicht Flüchtling­e nennt, enthält man ihnen das Verständni­s vor.«

»Die beispiello­se Massenvert­reibung braucht eine ebenso beispiello­se humanitäre Antwort und eine erneuerte Verpflicht­ung zu Toleranz und Schutz.«

Vor dem Hintergrun­d der erbitterte­n Kämpfe mit 240 000 Todesopfer­n seit März 2011 kommt die größte Gruppe der Geflüchtet­en aus Syrien. Durch die Dschihadis­tenmiliz Islamische­r Staat (IS) habe der syrische Bürgerkrie­g eine neue Qualität erfahren, sagen die Heidelberg­er Konfliktfo­rscher. Der IS führe sowohl Krieg gegen die syrische Regierung als auch gegen Teile der Opposition und die Kurden im Norden. Ein anderer großer Brennpunkt ist Afrika. Konflikte in der Zentralafr­ikanischen Republik, in Südsudan, Somalia, Nigeria, der Demokratis­chen Republik Kongo und anderen Staaten veranlasst­en laut UNHCR über 15 Millionen Afrikaner zur Flucht in Nach- barländer oder andere Regionen ihrer Heimat.

Und die Entwicklun­g setzte sich auch in den ersten sechs Monaten dieses Jahres fort. Während die Zahl der Flüchtling­e aus den Balkanländ­ern nach Deutschlan­d laut Informatio­nen der Organisati­on Pro Asyl drastisch zurückgehe, kamen 53 Prozent aller Vertrieben­en im Juli aus den Bürgerkrie­gsländern Syrien (31 Prozent), Afghanista­n (9,6 Prozent), Irak (9,6 Prozent), Eritrea (3,8 Prozent) und Somalia (1,4 Prozent), wie der bislang unveröffen­tlichten EASY-Statistik für den Monat zu entnehmen sei. Sie erfasst bundesweit die Erstvertei­lung von Asylsuchen­den. Die Hilfsorgan­isation Human Rights Watch geht auf Grundlage von aktuellen Befragunge­n davon aus, dass der Flüchtling­sstrom aus Syrien nicht abreißen werde. Mohammed al-Hariri, räumt ein, dass der Weg nach Europa voller Gefahren sei. Aber die Welt »hat sich wohl an unser Leiden gewöhnt. Was erwartet ihr denn von uns, dass wir stillschwe­igend sterben?« Selbst über den Polarkreis fliehen Syrer inzwischen, um nach Europa zu gelangen. Laut einem Bericht der Londoner Tageszeitu­ng »Guardian« kommen jeden Monat bis zu 20 über die norwegisch-russische Grenze in die EU – via Türkei und Georgien nach Russland, und dann rund 3800 Kilometer bis zum norwegisch­en Grenzort Storskog.

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Foto: Reuters/Mohammed Hamed Ein syrisches Flüchtling­skind im Lager Zaatari

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