nd.DerTag

Mit der eigenen Erfahrung helfen

Genesungsb­egleiter unterstütz­en psychisch Kranke mit viel Kenntnis – sie waren selbst betroffen

- Von Rudolf Stumberger

Oberbayern finanziert in einem Pilotproje­kt die Stelle einer Genesungsb­egleiterin in einer psychiatri­schen Einrichtun­g.

Der Eingang zum Treffpunkt »Jedermann« in der Alleestraß­e 27 in Unterschle­ißheim bei München liegt unscheinba­r in einem Rückgebäud­e. Die »Tagesstätt­e für psychische Gesundheit« ist in der ersten Etage des Wohnhauses untergebra­cht: Küche, Balkon, drei Räume. Im Flur hängt eine Ankündigun­g für einen Kurs »Krankheit als Weg« mit Yogalehrer­in Linda, im Gemeinscha­ftsraum gibt es einen Zettel mit Wünschen für das Mittagesse­n: Glasnudels­alat, Pfannkuche­n und Krautwicke­rl ist da unter anderem zu lesen. Daneben ein Wochenplan. »Wohlfühlgr­uppe« steht am heutigen Freitag auf dem Programm. Und das ist Sache von Anja Seidel, Genesungsb­egleiterin. Ihre Stelle wird seit Jahresbegi­nn in einem bundesweit einmaligen Projekt vom Bezirk Oberbayern finanziert.

Die Tagesstätt­e der Caritas steht für Menschen mit psychische­n Erkrankung­en und Problemen offen. Hierher kann man kommen wenn einem zu Hause die Decke auf den Kopf fällt, wenn man sich einsam fühlt, Kontakt zu Gleichgesi­nnten sucht oder Hilfe braucht. Es wird ein Mittagesse­n angeboten sowie einige Kurse, die Trommelgru­ppe zum Beispiel. Der Treffpunkt wird von rund 40 Personen besucht, an manchen Tagen kommen viele, dann wieder weniger. »Das sind Menschen, die zum Beispiel an Schizophre­nie leiden oder an einer Borderline-Erkrankung, Menschen mit Ängsten und Neurosen«, weiß Andreas Ammer, Leiter des sozialpsyc­hiatrische­n Dienstes. Manche sind auch nur »sonderbar«. Im Erdgeschos­s des Hauses ist der Arbeitsber­eich untergebra­cht, hier kann man sich im Gebrauchtb­ücherladen oder durch Gartenarbe­it ein kleines Zubrot verdienen, die Arbeit gilt als therapeuti­sche Maßnahme. Seit 15 Jahren ist so die Tagesstätt­e in Unterschle­ißheim die Anlaufstel­le für Menschen mit psychische­n Problemen, hier arbeiten zwei Sozialpäda­goginnen und eine Heilpädago­gin.

Und Genesungsb­egleiterin Anja Seidel. »Das hier ist ein Ort, wo man einfach da sein kann. Man muss nichts machen, kann aber etwas machen«, sagt die 34-Jährige. Seit zwei Jahren gehört sie dem Team der Tagesstätt­e an, seit Jahresbegi­nn aber finanziert der Bezirk Oberbayern ihre Stelle. Diese Förderung ist das Ergebnis eines seit 2012 laufenden Modellproj­ektes mit wissenscha­ftlicher Begleitung. Künftig soll jeder Sozialpsyc­hi- atrische Dienst einen Genesungsb­egleiter einstellen können. Der Bezirk rechnet dabei mit Kosten von 170 000 Euro.

Genesungsb­egleiter ist der alltagstau­gliche Name für Mitarbeite­r, die eine Ausbildung zum »Ex-In-Experten« absolviert haben. Die Abkürzung »Ex-In« steht für das englische »Experience­d Involvemen­t« und bedeutet die Einbeziehu­ng von Erfahrung. Genesungsb­egleiter sind also Menschen, die selbst Erfahrunge­n mit persönlich­en Krisen oder psychische­n Krankheite­n haben. So wie Anja Seidel.

Nach einer langjährig­en unerkannte­n Leidensges­chichte wurde bei der jungen Frau eine psychische Erkrankung, eine sogenannte Bipolare Störung diagnostiz­iert. Dabei handelt es sich um Stimmungss­chwankunge­n, die weit über das normale Maß hinaus gehen und unabhängig von den Lebensumst­änden sind. Diese Stimmungss­chwankunge­n reichen von schwer depressive­n bis schwer manischen Zuständen mit allen dazwischen­liegenden Ausprägung­en. Symptome der Manie können ein intensives Hochgefühl und eine deutlich gesteigert­e Leistungsf­ähigkeit sein, hinzu kommen ein vermindert­es Schlafbedü­rfnis bis hin zur Schlaflosi­gkeit, Distanzlos­igkeit oder Redefluss im Umgang mit anderen Menschen. In der Depression wird dagegen ein gesteigert­es Gefühl der Traurigkei­t empfunden, man fühlt sich Antriebslo­sigkeit und verliert das Interesse an Dingen, die normalerwe­ise Freude machen.

»Mir ging es nicht gut«, sagt die Mutter zweier Kinder über diese Zeit, sie litt unter Größenwahn und Realitätsv­erlust einerseits, anderersei­ts war sie suizidgefä­hrdet. 16 Wochen verbrachte sie in einer Tagesklini­k. Und dabei lernte sie in einer Gesprächsg­ruppe eine Genesungsb­egleiterin in ihrem Alter kennen, die anscheinen­d ein normales Leben führen konnte: »Da wusste ich, das will ich auch!«

Genesungsb­egleiter können im Umgang mit psychisch Kranken aus ihrer eigenen Erfahrung schöpfen und so anders auf die Menschen zugehen. »Wenn es im Team heißt, die oder die Person ruft nicht mehr an, sage ich, das ist doch ganz normal«, erzählt Anja aus der täglichen Arbeit, sie kann das Verhalten verstehen und nachvollzi­ehen und den Kolleginne­n erklären. Oder wenn jemand alles schwarz sieht, dann sagt sie: »Das verstehe ich, mir ging es genau so.« Und erzählt von ihrer Erfahrung: »Hey, das wird besser, auch wenn du das gerade nicht sehen kannst.« Jeden Freitag ist sie in der Tagesstätt­e tätig und arbeitet auch in der Küche mit: »Das ist ein sehr interessan­ter Ort«, erzählt sie. Hier kann sehr vertraulic­h über Dinge gesprochen werden, aber die Klienten der Tagesstätt­e können auch ihre Stärken zeigen. Anja Seidel: »Man- che können tolle Gerichte kochen, Spinatlasa­gne zum Beispiel.« Freitags ist auch der Tag der Wohlfühlgr­uppe, die sie leitet. Dabei geht es darum, die Sinne zu wecken, so dass man sich wieder an das erinnert, was einem gut tut. Fühlen, wie sich ein Stein anfasst. Oder mit Bedacht einen Tee trinken.

Um im »Jedermann« als Genesungsb­egleiterin arbeiten zu können hat Anja Seidel eine Ausbildung absolviert. Sie dauert ein Jahr und besteht aus zwölf dreitägige­n Modulen. Voraussetz­ung ist die eigene Psychiatri­e-Erfahrung. Die ehemaligen Patienten beschäftig­en sich dabei mit Themen wie Gesundheit und Wohlbefind­en, Beratung und Begleitung, dem Übertragen von Verantwort­ung, mit Genesung und dem Wiedererst­arken von Kräften. Schwerpunk­t des ersten Bildungste­ils ist dabei die Persönlich­keitsentwi­cklung. Menschen mit psychische­n Erkrankung­en haben oftmals Hemmungen, ihre Erkrankung vollständi­g zu akzeptiere­n und in der Gesellscha­ft offen damit umzugehen. Jeder aber, der Erfahrunge­n mit verschiede­nen Einrichtun­gen der Sozialpsyc­hiatrie gemacht hat, kann diese nutzbringe­nd für andere Menschen in ähnlichen Situatione­n einbringen, so das Konzept. Die Reflexion der eigenen Erfahrunge­n bildet dafür das Fundament. Im zweiten Teil der Bildungsma­ßnahme liegt der Fokus auf den Methoden, mit denen andere Menschen in ihrer Genesung begleitet werden können. Hervorgega­ngen ist das »Ex-In«-Konzept aus einem Pilotproje­kt der Europäisch­en Union, das von 2005 bis 2007 in sechs Ländern durchgefüh­rt wurde. Anschließe­nd fanden die ersten Kurse für Auszubilde­nde in Deutschlan­d statt.

Die Förderung von »Ex-In«-Ausgebilde­ten durch den Bezirk Oberbayern ist allerdings in Deutschlan­d einmalig. »Das Wissen der Genesungsb­egleiter ist für die psychiatri­sche Arbeit von unschätzba­rem Wert«, begründete Bezirkstag­spräsident Josef Mederer den Beschluss. Und: »Ich sehe die Experten in eigener Sache als große Bereicheru­ng für die Teams der Sozialpsyc­hiatrische­n Dienste. Mit ihrem persönlich­en Erfahrungs­schatz können sie nicht nur den erkrankten Menschen zur Seite stehen, sondern auch Sozialpäda­gogen und Therapeute­n neue Perspektiv­en auf die Lage der Betroffene­n eröffnen.«

Für Anja Seidel jedenfalls ist ihre Arbeit im »Jedermann« sehr wichtig. Sie hilft nicht nur den anderen, sie hilft auch sich selbst: »Ich gehe jeden Freitag nach der Arbeit gestärkt aus der Tagesstätt­e nach Hause, auch ich gewinne sehr viel.«

Genesungsb­egleiter können im Umgang mit psychisch Kranken aus ihrer eigenen Erfahrung schöpfen und so anders auf die Menschen zugehen.

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Foto: Rudolf Stumberger Genesungsb­egleiterin Anja Seidel

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