Kaabarett in Jerusalehm
Lessings »Nathan der Weise« am Deutschen Theater Berlin
Bei Lessings Stück darf einem schon ein wenig Müdigkeit hinter die Augen schießen. Denn es gibt eine Wahrheit, deren Unumstößlichkeit langweilt; es gibt eine Moralhöhe, von der man sich nur hinunterstürzen kann, um noch Leben zu spüren. Der Rest ist Verpflichtung zur politischen Korrektheit – denn freilich ist Nathan und die Ringparabel und jenes Beben zwischen Christen, Juden und Muselmännern, das sich im Stück märchengut selber schlichtet, ein hoch akuter, sittenstiftender Stoff. Und muss also aufgeführt und somit weitergegeben werden. Muss? Das ist die Krux, und so scheint »Nathan der Weise« inzwischen so geadelt wie aufgerieben.
Ich sah – in Hamburg und Potsdam – Aufführungen mit Benzinkanister, Panzerfaust, Patronengürtel, mit Osama-bin-Laden- sowie Bushund Ratzinger-Masken. Lessing als Thriller der Gehetzten, Gejagten, alle kriegsverschmutzt – ein Mix aus Irak, Afghanistan, Libanon. Klassik fern, aber Nahost. Ich sah jedoch auch, am Nationaltheater Mannheim, eine wunderbare Bodenständigkeit, und doch zauberhaft wie auf fliegenden Märchenteppichen (mit Jürgen Holtz in der Titelrolle). Ans Märchen knüpft auch Andreas Kriegenburg mit seiner Inszenierung am Deutschen Theater an (Bühne: Harald Thor). Er sagt: Alles auf jenen Anfang, da noch nichts wahr und also verdorben war. Zwei nackte, erdschlammverschmierte Menschen, wie Adam und Eva, umarmen einander. Weitere Schlammentstiegene nähern sich, reißen die beiden auseinander, zischeln, heben den Zeigefinger. Nächstenliebe, ein früh geahndetes Vergängnis. Die beiden Nackten flehen nach sehr weit oben: »Gott.« Keine Antwort.
Kriegenburg liebt Slapstick. Er will den »Nathan« nicht schleppen, sondern spielen: ein Slapstück. Unwirklich. Eine total konstruierte Saga. Von der mählichen Entdeckung aller Verstrittenen: Wir sind eine einzige Familie. Vom Verlust einer Geliebten und dem Wiedergewinnen eines Bruders. Von der Auflösung alter Bindungen und gleichzeitig ihrer Erneuerung. Und inmitten: Nathan, der Vater, der gar keiner ist und doch einer bleibt; der Jude, der die Gemüter erregt und die Herzen besänftigt. Der Widerspruch zwischen Fremdem und Vertrautem, zwischen Bestimmung und so ganz anders gelebter Existenz treibt die Menschen durch den dunklen, unfertigen Raum ihrer Geschichte. Zunächst weiß keiner, wer er ist. In dem Maße aber, wie es gelingt, den Fremden, gar Gehassten zum Vertrauten zu machen, kommt ein jeder auch mit sich selber in Übereinstimmung.
Das wird hier als Urzeit-Ulk zelebriert. Es verblüfft. Es amüsiert. Es nervt. Alle mit Erde beschmiert. Herausgekrochene. Man möchte an all den Schmierklumpen kratzen, wegen der Gesichter. Die Truppe brilliert im Komischen oder wirft sich auf den Boden, um schmerzvoll zu leiden – das Timing für witzige Wuseleien stimmt durchgängig. In der Bühnenmitte ein Bretterkubus. Die komischen archaischen Wesen, angesiedelt irgendwo zwischen StummfilmWatschlern und Teletubbies, rennen, schlurfen, traben um diesen Würfel, als sei er die Kaaba in Mekka. Bald tragen sie auf ihrem Hechelrundkurs Einkaufstüten von Markenfirmen. Urzeit mit heutiger Uhrzeit. Kaabarett. Man fliegt auch mal aus der Kurve und knallt gegen das Bühnenportal. Optische, akustische Kalauer: Sultan Saladin wird Satan Sultanin. Und als der Tempelherr am ganzen Körper bebt, kommt von hinten die Frage: »Weinst du oder wedelst du mit der Palme?« Hat’s einer am Kreuz, kriegt er sofort das Jesus-Requisit aufgehuckt. Es zischelt und wispert und kichert und sirrt: »Anschlag», »ISIS«. Die Kleider Lumpen, aber auf der Zunge Anzüglichkeit. Immer wieder werden Kostüme aus dem Würfel geholt, der zur Wand, zur Mauer aufgeklappt und zweistöckige Behausung werden kann. Schöne Gelegenheit, sich die Finger einzuklemmen. Kein Sandkasten-, ein Wandkastenspiel. Jörg Pose wird als Nathan ausstaffiert. Es wird an ihm geruckelt und gezuckelt. »Is jut jetzt!« Endlich fertig: »Is Jud jetzt!« Der Patriarch, den ein kalter Hauptsatz berühmt macht (»Tut nichts, der Jude wird verbrannt!«) sitzt als Monsterfettpuppe mit nacktem Gemächt auf seinem Stuhl, der sich als Kloschüssel entpuppt, an der sich der Kleriker – elendig beschmiert.
Elias Arens, Nina Gummlich, Bernd Moss, Julia Nachtmann, Jörg Pose und Natali Seelig wechseln die Rollen, nur Pose bleibt Nathan. Bleibt es in seiner die Worte ziehenden und nachziehenden Art, ein rührend weicher, verständlich matter Nathan, sich angenehm mühsam hineintrollend in seine unbeabsichtigte Weisheit. Die Ringparabel-Frage nach der rechten Religion (so allgemein wahr, so pädagogisch abgearbeitet, so forschend durchgekaut, so elendig richtig, so ermüdend klassisch): Pose oben auf dem Kubus, der Sultan unten. Es wird der stillste Moment im Zuschauerraum.
In allen Spielenden ein Grundflattern: Wage ich im Konfliktfeld zwischen Juden, Christen, Muslimen zu viel, wage ich zu wenig? Der Schlamm wandelt Augen in weiße Rollkommandos. Der Anfang der Welt spielt gleichsam jene kriegerische Weltwerdung, unter der wir leiden. Kriegenburg kann die Humanitätsparabel nur auf eine Weise geben, als sei »Kika«, der TV-Kinderkanal, der Koproduzent. Ein Verweis auf die traurige, aber logische Gebrochen- heit, mit der wir inzwischen auf Ideale und deren Beschwörung blicken; das Kindische, Tapsige, Drollige dieser Regie trägt jener Entzauberung Rechnung, die alle Weltsichten durchzieht. Abnabelung von ranzig gewordenem Humanpathos. Aber eben auch unaufhörliche Alberei, die darunter leidet, dass sie fast drei Stunden durchgehalten und also ständig mechanisch reproduziert werden muss.
Trotz allem: Es dringen Denkimpulse durch diesen Kunstdreck auf den Körpern. Du begreifst einmal mehr, dass Toleranz dort beginnt, wo etwas weh tut. Das Fremde, das Unbekannte. Man kann zum Beispiel den Satz, der Islam gehöre zu Deutschland, klar verneinen – aber doch bejahen, dass Muslime zu Deutschland gehören. Das erst ist Toleranz: würdige Arbeit am Widerspruch, am Riss, am Unterschied; Frieden bewahren beim Leben dieser Unterschiede. Nicht: sie verschmieren. Das ist der Gedanke, der seinen Weg findet durch Kriegenburgs Schmiere.
Und einmal musste ich an ein Zeitungsfoto dieser Tage denken, veröffentlicht anlässlich des Todes von Marcy Borders, jener völlig staubbedeckten Frau in Trümmernähe der Twin Towers. Der 11. September 2001. Eine Fantasie stellt sich ein: Auch die Erdgeschöpften dieser DTAufführung sind jene, die in dicker Staubhaut aus den Ruinen des World Trade Centers kletterten. Schöpfung erschöpft: Erde erbringt, Erde verschlingt. Der 12. September dann als eine Art Weltbeginn: Das politische US-Amerika so tief getroffen und plötzlich so schmerzend verletzt, dass es erwacht aus aller imperialen Trance – und im Taumel einer so noch nie erfahrenen Verletzbarkeit würde sich die Weltmacht endlich für die Ursachen jenes Hasses interessieren, der da einen mörderischen Ausdruck gesucht und im Türmesturz auch gefunden hatte. Für eine Geschichtsmillisekunde war es damals als Märchenglaube aufgeblitzt: Alles auf Anfang!, Mörder beider Seiten an einen Tisch! Aber keiner nah dran an Nathan.
Fazit: Ein Potpourri aus Kauzigem, Kasperndem. Kleine Menschen unter hohem Bühnenhimmel. Lessings Parabelwelt, bei Kriegenburg eine Kleckerburg. Sie steht in Jerusalehm. Erdmännchens Getrippel und Getrappel. Die Mahn-Öde aufgebrochen, durchaus, aber mit der Freilegung der Märchenschicht wird das Stück auch mächtig zugekleistert. Was einigen noch immer teuer ist – Kriegenburg stellt es wohl etwas zu billig in Frage. Der Beifall? Nicht euphorisch, eher aufrichtig – tolerant.
Nächste Vorstellungen: 7., 11., 18.9.
Kriegenburg kann die Humanitätsparabel nur auf eine Weise geben, als sei »Kika«, der TV-Kinderkanal, der Koproduzent.