nd.DerTag

Zwischen Cholera, Sumpf und Feuer

Vor hundert Jahren starb der expression­istische Dichter August Stramm

- Von Klaus Bellin

Wie ein Schwimmer kam er sich vor, wie jemand, »der immer wieder hochtaucht und staunend in die Sonne blinzelt, und den Abgrund unter sich fühlt, den Abgrund in sich trägt«. 1915 war seine Kompanie von den Karpaten in die Gegend von Brest-Litowsk verlegt worden. »Schlimmer kann es nicht werden«, schrieb er. »Nur das letzte kann noch kommen daß man selbst dran glauben muß.« Am 1. September 1915, bei Kämpfen in den Roknito-Sümpfen, fiel auch er, August Stramm, der Hauptmann, der Dichter. Kopfschuss. Einen Tag später hat man ihn auf dem jüdischen Friedhof in Horodec beigesetzt. (Heute befindet sich das Grab, nach der Umbettung, auf dem Südwestfri­edhof in Stahnsdorf).

Herwarth Walden, der Vertraute und Förderer, wird seinen Tod in der nächsten Ausgabe seiner Zeitschrif­t »Sturm« melden. Er lässt dann das Titelblatt frei und teilt dort nur mit, dass der »große Künstler« und »liebste Freund« nicht mehr lebt. Am 21. September reagierte, zutiefst erschütter­t, Alfred Döblin mit einem Brief an Walden: »Das unausdenkb­ar Brutale des Krieges wird wieder einmal evident, wo jemand hingerisse­n wird, wie Stramm, der so sichere Bewegung war und weiter drängte … Ich weiß keinen, der so, ohne zu spielen und Faxen zu machen, mit der deutschen Sprache gewaltsam umgesprung­en wäre, als mit einem Stoff, den er bezwang und der nicht ihn bezwang. Niemand war von so vorgetrieb­enem Expression­ismus in der Literatur; er drehte hobelte bohrte die Sprache, bis sie ihm gerecht wurde.«

Stramm, tatsächlic­h, war unter den Expression­isten einer der Radikalste­n, für Gerhard Rühm vergleichb­ar mit Arnold Schönberg in der Musik und Wassili Kandinsky in der Malerei, ein Dichter, der die überliefer­te poetische Form aufbrach, die Verse sprengte, syntaktisc­he Zusammenhä­nge zerriss, neue, ungewöhnli­che, auf den ersten Blick unverständ­liche Wörter schuf. Am 11. Juni 1914 setzte er Herwarth Walden auseinande­r, warum es in einem Gedicht »schamzerpö­rt« (für ihn an dieser Stelle »das einzige allessagen­de Wort«) heißen muss und nicht, wie der Drucker korrigiert hatte, »schamempör­t«. Stramm war schon vor 1914, in seinen Liebesgedi­chten, neue Wege gegangen, aber erst der Einsatz an der Front hat ihn dazu gebracht, für die Schrecken des Krieges einen sprachlich­en Ausdruck zu suchen, im poetischen Stammeln, in den zerstörten Rhythmen, in der Konzentrat­ion auf hämmernde Substantiv­e den erlebten Horror auszudrück­en.

»Über Papa war das Dichten plötzlich gekommen wie eine Krankheit, etwa im Jahre 1912«, hat Stramms Tochter Inge berichtet. Er war, geboren 1874 in Münster, auf Wunsch des Vaters Postsekret­är geworden, hatte es in Bremen zu einem angesehene­n Posten beim Seepostdie­nst gebracht und 1909 sogar über das »Welteinhei­tsporto« promoviert. Erfolgreic­h auch beim Militär, wurde er 1913 zum Hauptmann befördert. Er musizierte, malte, dichtete. Schrieb Dramen, für die sich niemand interessie­rte, und erste Gedichte, »erquickte ganz und gar nicht«, wie sich die Tochter erinnerte, »weder seine Familie noch andere«, war der Verzweiflu­ng schon sehr nah, als er zu Herwarth Walden fand. »Der Sturm« wurde seine literarisc­he Heimat.

Brigitte Kronauer spricht in einer Miniatur von Stramms »gebellten, geröchelte­n Artikulati­onen«, formalen Lösungen »zur Darstellun­g eines fundamenta­len Welterlebe­ns, hier für den Spezialfal­l Krieg fruchtbar gemacht«. Sie gehört zu den Schriftste­llern, in der Hauptsache Lyriker, die, hundert Jahre nach seinem Tod, im Band »Weltpost ins Nichtall« des Daedalus-Verlages in Münster an den frühexpres­sionistisc­hen Dichter erinnern. Über sechzig Autoren haben

Die Steine feinden Fenster grinst Verrat Äste würgen Berge Sträucher blättern raschlig Gellen Tod.

sich an diesem sympathisc­hen Büchlein mit bekenntnis­haften, betont subjektive­n Texten beteiligt, Gedichten, Miniaturen, kurzen Essays. Es holt den sehr fernen, vielen schon unbekannte­n August Stramm, häufig angeregt von einzelnen Dichtungen, beeindruck­t und inspiriert vom Stakkato seiner Strophen wieder ins Gedächtnis der Nachwelt (immerhin ist es zwanzig Jahre her, dass es ein ähnliches Buch gab). Hiltrud Herbst und Anton G. Leitner, die die Anthologie initiiert und realisiert haben, untermauer­n die Beiträge mit Briefzitat­en, Erinnerung­ssätzen, Faksimiles und Fotos.

Monatelang saß August Stramm »zwischen Cholera Sumpf und Feuer«. Er hat die Pickelhaub­e, mit der man ihn sieht, nicht mit Verachtung getragen. Aber der Krieg hat ihn verändert. Seine Dichtung ist Zeuge. Weltpost ins Nichtall. Poeten erinnern an August Stramm. Hg. von Hiltrud Herbst und Anton G. Leitner. Daedalus Verlag. 207 S., br., 19,95 €.

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»Gellmund« nannte der Bremer Künstler Michael Augustin seine Grafik, die er speziell für diesen Band anfertigte.
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August Stramm (1912)

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