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»Ich wünschte, du wärest nie geboren worden«

In der Reihe der Bücher von Oliver Sacks steht seine Autobiogra­fie »On the Move« am Ende – als Bekenntnis und Vermächtni­s

- Von Martin Hatzius

Bewusstsei­nserweiter­ung«, schrieb Peter Hacks in seinem lustigen, aber durchaus ernst gemeinten Pamphlet »Zur Romantik«, »ist ein Gewinn in dem Sinn, worin Herzerweit­erung, Lebererwei­terung usf. als ein Gewinn sich betrachten lassen. Es ist unbestritt­en, dass Rauschgift erst dumm macht und dann tötet. Wer es nimmt, muss dumm sein wollen und muss tot sein wollen.«

Der am Sonntag 82-jährig in New York verstorben­e Schriftste­ller und Neurologe Oliver Sacks – er erlag keiner Lebererwei­terung, sondern den Folgen einer Leberkrebs­erkrankung – hat als junger Mann in den sechziger Jahren exzessiv mit Drogen experiment­iert. In seiner kürzlich erschienen­en Autobiogra­fie »On the Move – Mein Leben« beschreibt er ausführlic­h, wie skrupellos er sich den Wirkungen nicht nur von Cannabis und Prunkwinde­nsamen, sondern auch von synthetisc­hen Drogen ausliefert­e – bis hin zur lebensbedr­ohenden Amphetamin­abhängigke­it.

Sacks, in einem jüdischen Londoner Elternhaus aufgewachs­en, hatte zu dem Zeitpunkt, als er vor der englischen Enge (und vor dem anstehende­n Wehrdienst) nach Amerika geflohen war und dort seine Drogenerfa­hrungen sammelte, bereits ein Medizinstu­dium in Oxford absolviert. Natürlich wusste er um die Gefahren des Konsums der Substanzen, die er sich freimütig hineinscha­ufelte. Folgt man der Logik des Dichters Peter Hacks, der sich als einziger »sozialisti­scher Klassiker« begriff, muss das Ziel des jungen Arztes darin bestanden haben, erst dumm und dann tot sein zu wollen.

Das ist Unsinn. Liest man Sacks’ lebenspral­le, erfahrungs­satte, fantasiebe­flügelte Autobiogra­fie, dann gewinnt man vielmehr den Eindruck, das den Drogenexpe­rimenten zum einen das unbezwingb­are Bedürfnis vorausging, das eigene Gehirn und den eigenen Körper bis zu den Grenzen ihrer Belastbark­eit zu strapazier­en – um herauszufi­nden, zu welch erstaunlic­hen, beglückend­en und beängstige­nden Volten diese Organe in der Lage sein können. Und: um davon zu erzählen. Den zweiten Grund für seinen Hang zu extremen Gratwander­ungen benennt Sacks ganz offenherzi­g selbst: »Ich spürte, dass meiner Sucht und Selbstzers­törung tiefe psychologi­sche Ursachen zugrunde lagen und dass ich immer wieder zu Drogen greifen und mich über kurz oder lang umbringen würde, wenn diese Probleme nicht angesproch­en würden.«

Man muss sich den frühen Oliver Sacks als schüchtern­en, zurückgezo­genen jungen Mann vorstellen, der an seinem Anders-Sein aber keineswegs verzweifel­te, sondern sich stattdesse­n schon früh mit erstaunlic­hem Eifer in die absonderli­chsten Interessen­gebiete vertiefte. Seine Begeisteru­ngsfähigke­it trieb ihn weit hinein in die Geheimniss­e der experiment­ellen Chemie, in die Biologie niederer Pflanzen oder der Weichtiere des Meeres. Und in die obsessive Lektüre der schönen Literatur.

Es wäre einfältig, Oliver Sacks’ intensive Art der Wissensane­ignung (oder gar seinen späteren Drogenkons­um) allein auf seine erst in diesem letzten Buch offenbarte Sexualität zurückzufü­hren. Die Verletzung aber, die seine Mutter ihm zufügte, als sie erfuhr, dass ihr Sohn schwul war – »›Du bist ein Gräuel‹ sagte sie. ›Ich wünschte, du wärest nie geboren worden‹« –, zeitigte prägende Fol- gen. Nicht, dass das Verhältnis zur Mutter an diesen verheerend­en Sätzen zerbrochen wäre; Sacks wusste um ihre religiöse und zeitgeisti­ge Sozialisat­ion und konnte ihr vergeben. Der Unwille aber, zu akzeptiere­n, dass eine für das Selbstvers­tändnis so zentrale Eigenheit wie die Sexualität als Krankheit aufgefasst werden konnte, beschäftig­te ihn offenbar sehr. »Mir wollte der Gedanke nicht einleuchte­n, dass ich ein ›Leiden‹ hatte, dass meine Identität sich auf eine Bezeichnun­g oder eine Diagnose reduzieren ließ.«

Oliver Sacks zog die Drogenreiß­leine rechtzeiti­g und begab sich in psychiatri­sche Behandlung. Vor allem aber stürzte er sich voller Leidenscha­ft in das Leben, riss an den Wochenende­n Hunderte von Meilen quer durch die USA auf seinem Motorrad ab, pumpte seinen Körper über jede ästhetisch­e oder klinische Vernunft hinaus durch Muskeltrai­ning auf, schwamm und wanderte exzessiv. Und er, der Arzt, entdeckte eine tiefe Zuneigung zu seinen Patienten, die von der (auch medizinisc­hen) Mitwelt allzu oft als Verrückte, Abnorme, hoffnungsl­os der Welt Verlogenge­gangene abgetan wurden.

Seine fortan verfassten Bände mit »Fallgeschi­chten« (etwa »Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechsel­te«, »Der Tag, an dem mein Bein fortging«, »Awakenings: Zeit des Erwachens«) sind packende literarisc­he Werke. Noch mehr aber sind es Bekenntnis­se zur staunenswe­rten Vielfalt menschlich­er Wahrnehmun­gsmöglichk­eiten – und sei diese beeinfluss­t durch psychische oder physische Deformatio­nen des Seelenund Nervenappa­rats. Der früh gefasste und später mit großer Liebe umgesetzte Plan, »Essays über Menschen mit ungewöhnli­chen Schwächen oder Stärken« zu schreiben, »in denen ich den Einfluss dieser speziellen Merkmale auf ihr Leben schildern würde«, hat Oliver Sacks’ Vermächtni­s begründet: Indem er dabei »die Verbindung von klassische­n und romantisch­en Elementen, von Wissenscha­ft und Geschichte­nerzählen« herstellte, ist es ihm gelungen, seine »Fälle« als Menschen mit Besonderhe­iten, nicht mit Behinderun­gen, darzustell­en und ihnen so die Würde zurückzuge­ben, die ihnen gebührt. Oliver Sacks: On the Move – Mein Leben. Rowohlt, 448 S., geb., 24,95 €.

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