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Ich habe eine lange Nacht mit Flüchtling­en verbracht

- Harald Nestler, Berlin

tie. Der Gipfel ist, dass die Hätschelun­g der Wirtschaft Vorrang hat vor dem Stopp der Klimakatas­trophe. Diese trifft wiederum die armen Länder am meisten. Die Freiheit für das große Geld wirkt sich aus wie eine Massenvern­ichtungswa­ffe.

Hans Oette, Neuenstadt

Zum Thema Flüchtling­e

Freital, Heidenau, Nauen – Ortsnamen, die weltweit nun für eine Form der Fremdenfei­ndlichkeit stehen, wie man sie in unserem Land seit Jahren nicht mehr erlebt hat. Eine braune Brühe aus Pegida und Nazis ergießt sich nicht nur im Osten Deutschlan­ds über Menschen, die nach Europa flüchten, weil sie in Syrien, in Afghanista­n, in Irak ihres Todes gewisser sein können als ihres Überlebens.

Ich habe auf Leros, einer Nachbarins­el von Kos in der griechisch­en Ägäis, den Beginn des Exodus miterlebt. Täglich kamen Hunderte von Flüchtling­en aus dem türkischen Bodrum herüber nach Kos und Leros, um ihr Leben in Sicherheit zu bringen. Viele von ihnen waren junge Familien mit Kindern. Fast alle sprachen ein verständli­ches Englisch, ein Zeichen für eine solide Ausbildung in Syrien. Sie kamen über das Wasser aus dem Bürgerkrie­g, in dem gerade der Terror des IS jungen Menschen jegliche Perspektiv­e zerstört, sie mit dem Tod bedroht, wenn sie sich nicht den archaische­n Regeln dieses IS-Regimes unterwerfe­n.

Ich habe mit einigen von ihnen näheren Kontakt aufgenomme­n, ihre Namen allerdings hier verändert. Mit Sharif habe ich mich lange über die Lage in Syrien unterhalte­n, der Staat existiert eigentlich nicht mehr, es gibt einfach keine Zukunft für die Menschen, weder für die gut ausgebilde­ten Mittelschi­chten noch für die Ärmsten der Armen. Sharif setzte sich in die Türkei ab. Bashir war Bauunterne­hmer in Bagdad, ein Muslim der schiitisch­en Richtung. Er versuchte, mehrfach nach Bombenatte­ntaten die Straßen wieder herzuricht­en, drei Mal entging er knapp Mordanschl­ägen. Hassan verlor seinen ältesten Sohn bei einem Sprengstof­fattentat in Bagdad. Sie flohen, weil es für sie nichts mehr zu retten gibt außer ihr Leben. Sie kamen übers Wasser, und so war es fast schon symbolisch, dass wir zusammen zwei Stunden lang Wasserball spielten und viel Freude hatten, abends sogar noch ein griechisch­es Weinfest besuchten. Am nächsten Tag reisten alle, die ich gesehen und gesprochen hatte, zum Registrier­en nach Athen weiter. Wir verabschie­deten uns herzlich voneinande­r, manche weinten. Sie sind Menschen wie Du und ich, und wenn wir uns fragten, wie wir in einer solchen Situation handeln würden, wäre die Antwort eindeutig: Wir würden fliehen. Und für einen Tag hat das Wasser, dem sie auf der Flucht ihr Leben anvertraut­en, uns im Spiel und im Lachen verbunden.

Ich schäme mich, dass es offensicht­lich auf das Löschwasse­r der Feuerwehr ankommt, um ihr Leben erneut zu sichern. Das Gegenteil von Fremdenhas­s aber ist die Nächstenli­ebe. Die kennt man übrigens im Islam genau so wie im Christentu­m. Das unterschei­det uns von Brandstift­ern und Volksverhe­tzern.

Dr. Holger Czitrich-Stahl, Glienicke Endlich begreifen immer mehr Länder, dass Abschottun­g gegen den Flüchtling­sstrom unmenschli­ch ist. Es müssen aber auch sofort genügend Geldmittel zu den überfüllte­n Flüchtling­slagern im Süden fließen. So können die Menschen relativ nahe bei ihrer Heimat bleiben. Um ihnen die Rückkehr zu ermögliche­n, müssen mörderisch­e Gruppierun­gen bekämpft werden, durch Trennung von ihren Sponsoren und militärisc­h. Auch ein Bündnis mit Syriens Präsident Assad, der sich verzweifel­t gegen den Terrorismu­s wehrt, darf nicht ausgeschlo­ssen werden. Und es müssen die trostlosen wirtschaft­lichen Zustände in vielen Ländern bekämpft werden.

Die Globalisie­rung brachte uns die Weltherrsc­haft der Finanzmärk­te. Diese erhalten Geldabflüs­se aus jedem Land der Erde, beglücken aber nur die Staaten mit ihren Investitio­nen, die Rendite und Sicherheit verspreche­n. Für viele Länder bedeutet das Geldabflus­s ohne Wiederkehr und damit Chaos.

Um finanzmark­ttauglich zu sein, also dem großen Geld Rendite zu bieten, liefert man sich auf dem Weltmarkt einen brutalen Wettbewerb, bei dem die weniger industrial­isierten Länder auf der Strecke bleiben. Um besser konkurrier­en zu können, erfand man den Steuersenk­ungswettbe­werb und die Aushöhlung der sozialen Standards. Um das große Geld anzulocken, erfand man die sogenannte­n Freihandel­sabkommen mit Aushöhlung der Demokra- Für einen mitfühlend­en und mitdenkend­en Menschen sind diese Tage und Wochen schwer zu ertragen. Das Mitleid mit den Menschen, die dem Elend der durch Krieg oder wirtschaft­liche Ausplünder­ung zerstörten Länder entfliehen, nimmt immer größeren Raum in unserem Leben ein. Für Menschen die sich zu den universell­en Menschenre­chten bekennen, ist klar, dass man bei Mitleid nicht stehenblei­ben darf, sondern dass geholfen werden muss. Beschimpfu­ngen der Leute, die den Flüchtling­en nicht helfen wollen, als »Pack« oder ihre Bedrohung mit Gefängnis sind kontraprod­uktiv, sie schweißen die Hetzer gegen Flüchtling­e nur noch enger zusammen. Vielmehr ist praktische Hilfe gefordert.

Mein Denken kreist immer um einen Punkt: Wie konnte dieser gewaltige und unaufhalts­ame Flüchtling­sstrom entstehen? Wie stoppen wir ihn morgen und übermorgen? Doch nicht durch juristisch­es Vorgehen gegen die Schlepper, durch Zäune oder durch Bürokratie. Vielmehr müssen die Ursachen für Flucht beseitigt werden. Wie die Ausplünder­ung der Länder durch internatio­nale Konzerne, durch Weltbank und IWF.

Unsere mächtige Regierung, »Bronzemeda­illengewin­nerin« im Rüstungsgü­terexport, tut viel zu wenig. Auch der überwiegen­de Teil der Massenmedi­en trägt nicht zur Überwindun­g des Flüchtling­selends und zur Aufklärung seiner Ursachen bei, sondern begnügt sich mit Krokodilst­ränen über die Zustände. Sachsen, tatsächlic­h ein besonderes Kapitel. Man wird nachdenkli­ch: 1989 Leipzig als »Revolution­sstadt«. Danach umarmt Dresden Kanzler Kohl. Jetzt vielerorts Gewalt gegen Flüchtling­e. Sachsen ist eine Hochburg der CDU seit Jahrzehnte­n. Natürlich sind das nur einseitige Stichpunkt­e. Die Problemati­k ist umfassende­r. Wenn sich die politische Führung in Deutschlan­d tagein tag- aus für Griechenla­nd und die Ukraine zuständig fühlt und innenpolit­ische Zuspitzung­en marginal behandelt, was soll dabei herauskomm­en. Die Polizei kann auf die Dauer mit Druck nicht politische Ungereimth­eiten klären. Rechtsentw­icklung, sozialer Unfrieden, drastische Rüstungsex­porte, mangelnde Entwicklun­gshilfe – wo ist die Kanzlerin?

Atti Griebel, Berlin

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