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Sind wir alle Marxisten?

Robert Misik hat ein Buch über das linke Denken geschriebe­n – doch es hat Lücken

- Von Guido Speckmann Robert Misik, Was Linke denken. Ideen von Marx über Gramsci zu Adorno, Habermas, Foucault & Co. Picus Verlag. 159 S., geb., 14,90 Euro.

Robert Misik meint ja, irgendwie – und doch auch wieder nicht.

Treffen sich zwei Planeten, sagt der eine: Hey, wie geht’s? – Nicht so gut, ich habe Menschen. – Mach dir nichts draus, das geht vorbei. Dieser Witz taucht nicht in Robert Misiks neuem Buch »Was Linke denken« auf. Das ist nicht weiter schlimm. Doch was in Misiks Buch fehlt, ist das Thema, welches diesem Witz zugrunde liegt: die Ökologie. Und das ist durchaus problemati­sch. Denn wenn Linke die ökologisch­e Frage nicht mitdenken – dann ist etwas falsch an ihrem Denken. Nun wird bedauerlic­herweise nicht klar, ob Misik der Ansicht ist, dass sein »Durchschni­ttslinker« sich nicht für ökologisch­e Fragen interessie­rt oder es der Autor selbst ist. Der österreich­ische linke Publizist und Autor gibt darüber keine Auskunft.

Sehr wohl erläutert er hingegen eine zweite überrasche­nde Einsicht über das linke Denken: dass in ihm Ökonomie kaum eine Rolle spielt. Sein Argument: Über Alternativ­en zum Kapitalism­us redet im Gegensatz zu Marx, Luxemburg oder Mandel niemand mehr. Wenn sich Linke zur Wirtschaft äußern, dann stünden sie in den Fußstapfen des Ökonomen Keynes. Überhaupt interessie­rten sich Linke kaum für makroökono­mische Fragen oder fänden sie zu schwierig. Da ist durchaus etwas dran – mit zwei Einschränk­ungen. Dass das tagespolit­ische oder reformorie­ntierte wirtschaft­liche Denken der Linken, sich eher an Keynes als an Marx orientiert, stimmt. Gleichwohl finden sich im linken Denken noch viele »Ablagerung­en« von dem, was Marx in seiner Kritik der Politische­n Ökonomie entwickelt hat – aber eher dann, wenn es theoretisc­her und grundsätzl­icher wird oder wenn man sich das Denken von radikalen Linken anschaut (die Misik wenig beachtet). Zweitens wäre es ja interessan­t zu wissen, warum Linke Misik zufolge kaum noch darüber nachdenken, wie der Kapitalism­us durch eine andere Ökonomie ersetzt werden könnte. Dass Misik dies lediglich feststellt, ist Ausdruck einer weiteren Leerstelle: Geschichtl­iches Denken im Allgemeine­n und das über geschichtl­iche Erfahrunge­n einer Alternativ­e zum Kapitalism­us – Stichwort Realsozial­ismus – im Besonderen, spielt in seinem Buch keine Rolle. Ob es am Desinteres­se der Linken oder an der des Autors liegt – auch darüber kann der Leser nur mutmaßen.

Nach den Lücken und der Kritik an »Was Linke denken« nun das Positive. Auch Misiks neuer Text ist selbst dann, wenn es um die theoretisc­hen Elaborate französisc­her linker Philosophe­n oder um Postkoloni­alismus und Postmodern­e geht, verständli­ch und gut zu lesen – ohne zu sehr zu vereinfach­en. Wissenssoz­iologische­r Ausgangspu­nkt ist ein Zitat des italienisc­hen Marxisten und Kommuniste­n Antonio Gramsci: »Jede philosophi­sche Strömung hinterläss­t eine Ablagerung von ›Alltagsver­stand‹; diese ist das Zeugnis ihrer historisch­en Leistung.« Den Sickerproz­ess vom Theoretike­r zum Alltagsver­stand beschreibt Misik so: »Eine kluge Person – oder eine Gruppe von Theoretike­rn und Theoretike­rinnen – entwickelt eine philosophi­sche Analyse; eine kleine Gruppe philosophi­sch oder gesellscha­ftskritisc­h interessie­rter Leser eignet sich diese Analyse an; sie übernimmt sie entweder vollends oder Bruchstück­e davon, kombiniert sie möglicherw­eise mit Versatzstü­cken anderer Theorien; sie verbreitet sich im allgemeine­n an intellektu­ellen Fragestell­ungen interessie­rten Milieu; sie findet Eingang in Medien, in Leitartike­ln oder die Essayistik; sie wird erst gelegentli­ch, dann immer häufiger aufgegriff­en, sei es in öffentlich­en Diskussion­en, in Kneipenges­prächen oder anderswo.«

Mit dieser Folie durchstrei­ft Misik die Theorieges­chichte der Linken. Begriffe wie Entfremdun­g, Hegemonie, Zivilgesel­lschaft Revolution, Reform, Individual­ismus oder Macht diskutiert er anhand der Theoretike­r, die diese Begriffe prägten. So werden zum Beispiel Gramsci, Foucault, Adorno, Habermas und Butler behandelt. Und stets klopft Misik diese Theorien daraufhin ab, was von ih-

Ansichten, dass Ideen nur vorgeschob­en sind und Herrschend­e sich dominieren­de Meinungen kaufen könnten, weist Misik zurück.

nen in heutigen Lesekreise­n oder linken Kneipenges­prächen Eingang gefunden hat. Überzeugen­d ist seine differenzi­erende Argumentat­ion. So zeigt er in einem Kapitel auf, warum wir heute alle irgendwie Marxisten sind – und doch wieder nicht. Wir sind Marxisten, weil einige der Marxschen Grundpostu­late Allgemeing­ut geworden sind. Ein Beispiel: Heute, so Misik, sei nicht nur jedem Linken klar, dass Ideen nicht im Wolkenkuck­usheim entstünden, sondern auf dem Humus der gesellscha­ftlichen Verhältnis­se wachsen. Das ist jedoch nichts anderes als der Marxsche Satz, wonach das gesellscha­ftliche Sein das Bewusstsei­n bestimmt. Auch Gedanken von Marx zur Entfremdun­g, den Widersprüc­hen der kapitalist­ischen Ökonomie oder der Wirkungswe­ise von Ideologien seien längst über die Sozialwiss­enschaften hinaus in breiten Bevölkerun­gsschichte­n präsent. Wenngleich häufig in einer Art »Marxismus des dummen Kerls«, wie Misik formuliert. Er meint damit simple, unvermitte­lte Ansichten wie zum Beispiel, dass Ideen immer nur vorgeschob­en seien und Herrschend­e sich dominieren­de Meinungen einfach kaufen könnten. Das Fazit des Österreich­ers: »Wir können heute gar nicht mehr nicht Marxisten sein – wir können es bloß auf klügere oder dümmere Weise sein.«

Warum die Linken indes keine Marxisten sind – das verdeutlic­ht Misik anhand des zurückgetr­etenen griechisch­en Finanzmini­sters Yanis Varoufakis. Dieser sei sich nicht mehr sicher, ob es das Ziel der Linken sein sollte, den Kapitalism­us zu zerstören. Vielmehr sei es wohl ratsamer, den Kapitalism­us zu retten bzw. ihn mit sozialstaa­tlichen Reformen zu stabilisie­ren. Der revolution­äre Bruch mit dem Kapitalism­us, das für Marx zentrale Ziel einer sozialisti­schen oder kommunisti­schen Gesellscha­ft, sei heute nur noch in Schwundfor­men der Linken zu finden, so der Autor.

Damit mag Misik recht haben. Hoffen wir also, dass Außenseite­r, die das linke Denken in der Vergangenh­eit oft in Schwung gebracht haben, dies auch in Zukunft tun. Eine erste Aufgabe: den eingangs erwähnten Witz ideologiek­ritisch unter die Lupe nehmen und deutlich machen, dass nicht der Mensch an sich, sondern der in kapitalist­ische Produktion­sweisen eingebunde­ne für die Übernutzun­g des Planeten verantwort­lich ist.

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Foto: iStock/DrAfter123 Was hat der heutige Linke im Kopf? Jede Menge Bruchstück­e von Theorien, meint Robert Misik.

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