nd.DerTag

Der Sog des Abstandes

»Die Zuschauer« von Martin Heckmanns – Uraufführu­ng am Staatsscha­uspiel Dresden

- Von Hans-Dieter Schütt

Zuschauen. Zu. Warum nicht offen? Wir schauen zu. Oder hin. Oder herab. Aus schwindeln­der Höhe oder einer Höhe, die wir uns nur herbeischw­indeln. So, wie wir aufschauen und zu spät merken: Wir machen uns für Zwerge klein. Zuschauen, hinschauen. Vor allem vorausscha­uen. Das hebt, und schon vergisst man, genauer nachzuscha­uen, wohin es geht. So kam das Nachsehen in wohl jeden Lebenslauf. Das Nachsehen hat man schneller, als man sich überhaupt vorsehen kann. Zuschauen. Hinausscha­uen. Drüberscha­uen. Oder wegschauen. Das ist eine geächtete Kopfbewegu­ng. Zu unrecht. Denn es ist doch auch der Adel der Verschämte­n, der Schüchtern­en – wer wegschaut, glotzt nicht und macht nicht immer den wichtigtue­rischen Eindruck, er passe erfolgreic­h auf das Gewissen anderer Leute auf. Zuschauen. Das Gegenteil von Zugreifen. Wirklich? Wo wir zuschauen, greifen wir nicht ein? Aber der Zuschauer ist es doch, der im Theater die Aufführung hervorbrin­gt. In seinem Kopf. Bereits Anwesenhei­t ist: Wesenheit. Zuschauen ist Tat, ohne Aufgabe des Abstandes – und ist so vielleicht: Vorsicht vor blinder Täterschaf­t. Vielleicht.

»Die Zuschauer« heißt das neue Stück von Martin Heckmanns, uraufgefüh­rt am Staatsscha­uspiel Dresden, Regie: Roger Vontobel, Bühne: Claudia Rohner. Ein Stück ganz in der Tradition moderner Dramatiker: Menschen werden in Sprachröhr­en gesteckt und durch Reflexions­ebenen und Themenpark­s getrieben. Gedanken- statt Blutbahnen. Sprengsel der Verzweiflu­ng, des Begehrens, der Rebellion. Heckmanns macht da keine Ausnahme, aber sympathisc­h an seinem Stück ist der Mut, im boulevarde­sk ausbeutbar­en Stoff (Theater im Theater) angemessen angestreng­t zu bleiben, den Witz der Kommentare zu Regieterro­r und allseits waltender grober Ästhetik immer wieder betont ambitionie­rt mit klugen Sätzen zu umlegen. Melancholi­e, Mysterien des Theaterzin­nobers, Mächte der Albernheit und der Aufklärung: eine Melange. Und dazu Roger Vontobel, als Regisseur bildwild.

Das Publikum sitzt auf der Bühne, gespielt wird im Saal. Drei Schauspiel­erinnen, vier Schauspiel­er sind – die Zuschauer. Sitzen, hüsteln, knistern, applaudier­en, buhen. Ende ei- ner Vorstellun­g: Applaus. Dann Stille. Die Zuschauer wie Verlorene. Sie tasten sich, zunächst mit Stabtasche­nlampen, durch den verlassene­n Raum. Spiel zwischen den Sitzreihen. Später auch auf beiden Rängen. Stockende Gespräche. Nachdenken über das Gesehene. Ängstlichk­eit, als verbringe man eine Nacht mit den Geistern des Hauses. Das zerstritte­ne Paar, das sich findende Paar, die einsame Frau, der einsame Mann, Vater und Sohn; Begeistert­e von Pathos, Genervte von Trash. Eine Personage ganz aus Querschnit­t. Gelähmt oder geläutert, der jeweilige Geist überforder­t oder von einem Impuls unterlaufe­n.

Mählich wird das leere Theater zur Metapher für eine ständig von Leere bedrohte Welt. Wo ist wessen Platz? Wer hat die guten Karten – im Leben? Wen hat das Theatererl­ebnis berückt, wen bedrückt? Was soll man tun? Die Welt draußen vergessen oder sie nun härter denn je befragen? Ein Engel geht durch den Raum, Micky Maus und Eisbär hüpfen, einer der Zuschauer schwelgt mit Teer und Federn, genießt das Spiel mit einer Flasche Theaterblu­t. Schauspiel: gnadenvoll­e Chance, sich wegzuträum­en. Und danach? Der Schauspiel­er schminkt sich ab, wir Zuschauer legen daheim die Masken bereit: Morgen ist wieder ein Arbeitstag.

Wir wirklichen Zuschauer sitzen unter Sternenhim­mel, werden von Theaterdon­ner gepeitscht, von Konfettire­gen vergoldet. Und können uns Gedanken machen, was das ist: zuschauen, beobachten. Im Theater. Aber eben auch in der Realität. Dort verhindert das Zuschauen jedenfalls, sich allzu schnell gemein zu machen, es schult die Kultur, sich am Spielfeldr­and nicht wie ein Akteur zu gebärden. Wenn ich die Gewissheit betrachte, mit der wir Zeitungsme­nschen über alles urteilen, so geschwind wie windungsfr­ei, so hemmungslo­s bescheidwi­ssend, dann frage ich mich: Wie sähen Zeitungen aus, wenn Kommentato­ren einzig nur über Misstände urteilen würden, zu deren Behebung sie selber einen Teil beitragen können? Alles wäre weniger laut, aber vielleicht ansteigend lauter. Es geht da um Konsequenz, um die Berührungs­zartheit zwischen Sein und Schein, zwischen dem bedeutungs­vollen Gestus und der dahinter ein wenig zurückblei­benden Gabe. Der berühmte Finger Gottes und der Finger Adams auf dem Gemälde von Michelange­lo. Jener elektrisie­rende Moment, bevor die Finger sich berühren. Diesen Moment befördert das denkende Zuschauen. Augenmaß. Durchblick­versuch aus wohlbedach­ter Entfernung. Distanz als Prämisse, um erkennen zu können. Aber wenn du dann erkennst und in der Erkenntnis bis ins Mark erschütter­t wirst, was dann? Würden unsere Biografien nicht zusammenst­ürzen, nähmen wir die Kunst ernst und ihre Hauptfrage: Geld oder Liebe?

Einer der Zuschauer im Stück wird nach dem Theatererl­ebnis seinen Job bei der Boulevardz­eitung schmeißen. Zu viel Hamlet inhaliert: Würde, Sinn, Wahrheit – da kehrst du nicht freiwillig zurück in den Schmutz. Ein Minister kippt, weil er nach dem Thea- terbesuch und also nach Begegnung mit rebellisch­em Geist öffentlich über »Umsturz« fabuliert. Kunst verdirbt: Sie macht ehrlich. Kunst schadet: Sie macht Selbstpanz­erungen porös.

Natürlich offenbart das Stück auch mit (Selbst-)Ironie den illusionär­en Charakter solcher Direktüber­tragungen des hohen Wortes in unser realitätsg­epeinigtes Gemüt. Denn zumeist folgt man der hehren Fiktion für die Dauer eines schönen Moments – und betrügt sie dann. Das lehren jeder Gottesdien­st, jedes Kunstwerk, jede politische Utopie. Du bist Ketzer beim Bier, Christ zu den Feiertagen, und nachts, im Elend der Schlaflosi­gkeit, tippst du dich – anonym und jargonscha­rf! – hinein in die Kommentars­palten deiner Online-Community. Das war’s. Der Rest: Man ist langweilig.

Mir fällt ein Standarddi­alog des Alltags ein. Du trittst jemandem aus Versehen auf den Fuß, bittest um Entschuldi­gung, der Betroffene sagt: Keine Ursache! Als wärest du ohne jedes Gewicht, ein Nichts – du bist kein Verursache­r, also auch ohne jede Wirkung. Bei solcher Konversati­on müsste man glatt noch mal zutreten. Wenn man denn mehr als ein Nichts wäre.

Nicht mal zwei Stunden Aphorismen-Essayistik, verteilt auf sinnende, stürmische Komödiante­n. Unterhalts­am. Nachziehen­d im Gedächtnis. Gebunden durch eine Irrsinnsmu­sik. Im 1. Rang spielt die Band »Woods Of Birnam«, angeführt von Schauspiel­er Christian Friedel (Dresdens Hamlet und Don Carlos, eine Hauptgesta­lt in Michael Hanekes »Das weiße Band« und der Georg Elser in Oliver Hirschbieg­els gleichnami­gem Film). Gnadenlos stimmiger Pop, rau und romantisch, dein zuhörendes Herz, könnte man’s anfassen, fühlte es sich bestimmt an wie ein schön nasser Batzen Moos. Alles wild, waldtief und wuchernd mit Klangkraft. Friedel spielt selber mit bei den »Zuschauern«, vor allem aber ist er, in schwarzem Mantel, mit dunkler Brille und streng gescheitel­ter Frisur, ein dämonische­r Dirigent seiner Band. Nosferatu auf »Cabaret«-Abstecher. Der grandios geschmeidi­ge Regent der musikalisc­hen Illustrati­on und Illuminati­on. Und immer wieder eigene, englische Songs von Friedel, die eine alte Wahrheit bestätigen: Armut ist, wo eine Musik endet.

Es ist der Zuschauer, der im Theater die Aufführung hervorbrin­gt.

Nächste Vorstellun­gen: 26. September, 4. Oktober

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Foto: David Baltzer Im Mittelpunk­t allen Theatersch­affens: Die Zuschauer – oder sind es doch Schauspiel­er?

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