Der Sog des Abstandes
»Die Zuschauer« von Martin Heckmanns – Uraufführung am Staatsschauspiel Dresden
Zuschauen. Zu. Warum nicht offen? Wir schauen zu. Oder hin. Oder herab. Aus schwindelnder Höhe oder einer Höhe, die wir uns nur herbeischwindeln. So, wie wir aufschauen und zu spät merken: Wir machen uns für Zwerge klein. Zuschauen, hinschauen. Vor allem vorausschauen. Das hebt, und schon vergisst man, genauer nachzuschauen, wohin es geht. So kam das Nachsehen in wohl jeden Lebenslauf. Das Nachsehen hat man schneller, als man sich überhaupt vorsehen kann. Zuschauen. Hinausschauen. Drüberschauen. Oder wegschauen. Das ist eine geächtete Kopfbewegung. Zu unrecht. Denn es ist doch auch der Adel der Verschämten, der Schüchternen – wer wegschaut, glotzt nicht und macht nicht immer den wichtigtuerischen Eindruck, er passe erfolgreich auf das Gewissen anderer Leute auf. Zuschauen. Das Gegenteil von Zugreifen. Wirklich? Wo wir zuschauen, greifen wir nicht ein? Aber der Zuschauer ist es doch, der im Theater die Aufführung hervorbringt. In seinem Kopf. Bereits Anwesenheit ist: Wesenheit. Zuschauen ist Tat, ohne Aufgabe des Abstandes – und ist so vielleicht: Vorsicht vor blinder Täterschaft. Vielleicht.
»Die Zuschauer« heißt das neue Stück von Martin Heckmanns, uraufgeführt am Staatsschauspiel Dresden, Regie: Roger Vontobel, Bühne: Claudia Rohner. Ein Stück ganz in der Tradition moderner Dramatiker: Menschen werden in Sprachröhren gesteckt und durch Reflexionsebenen und Themenparks getrieben. Gedanken- statt Blutbahnen. Sprengsel der Verzweiflung, des Begehrens, der Rebellion. Heckmanns macht da keine Ausnahme, aber sympathisch an seinem Stück ist der Mut, im boulevardesk ausbeutbaren Stoff (Theater im Theater) angemessen angestrengt zu bleiben, den Witz der Kommentare zu Regieterror und allseits waltender grober Ästhetik immer wieder betont ambitioniert mit klugen Sätzen zu umlegen. Melancholie, Mysterien des Theaterzinnobers, Mächte der Albernheit und der Aufklärung: eine Melange. Und dazu Roger Vontobel, als Regisseur bildwild.
Das Publikum sitzt auf der Bühne, gespielt wird im Saal. Drei Schauspielerinnen, vier Schauspieler sind – die Zuschauer. Sitzen, hüsteln, knistern, applaudieren, buhen. Ende ei- ner Vorstellung: Applaus. Dann Stille. Die Zuschauer wie Verlorene. Sie tasten sich, zunächst mit Stabtaschenlampen, durch den verlassenen Raum. Spiel zwischen den Sitzreihen. Später auch auf beiden Rängen. Stockende Gespräche. Nachdenken über das Gesehene. Ängstlichkeit, als verbringe man eine Nacht mit den Geistern des Hauses. Das zerstrittene Paar, das sich findende Paar, die einsame Frau, der einsame Mann, Vater und Sohn; Begeisterte von Pathos, Genervte von Trash. Eine Personage ganz aus Querschnitt. Gelähmt oder geläutert, der jeweilige Geist überfordert oder von einem Impuls unterlaufen.
Mählich wird das leere Theater zur Metapher für eine ständig von Leere bedrohte Welt. Wo ist wessen Platz? Wer hat die guten Karten – im Leben? Wen hat das Theatererlebnis berückt, wen bedrückt? Was soll man tun? Die Welt draußen vergessen oder sie nun härter denn je befragen? Ein Engel geht durch den Raum, Micky Maus und Eisbär hüpfen, einer der Zuschauer schwelgt mit Teer und Federn, genießt das Spiel mit einer Flasche Theaterblut. Schauspiel: gnadenvolle Chance, sich wegzuträumen. Und danach? Der Schauspieler schminkt sich ab, wir Zuschauer legen daheim die Masken bereit: Morgen ist wieder ein Arbeitstag.
Wir wirklichen Zuschauer sitzen unter Sternenhimmel, werden von Theaterdonner gepeitscht, von Konfettiregen vergoldet. Und können uns Gedanken machen, was das ist: zuschauen, beobachten. Im Theater. Aber eben auch in der Realität. Dort verhindert das Zuschauen jedenfalls, sich allzu schnell gemein zu machen, es schult die Kultur, sich am Spielfeldrand nicht wie ein Akteur zu gebärden. Wenn ich die Gewissheit betrachte, mit der wir Zeitungsmenschen über alles urteilen, so geschwind wie windungsfrei, so hemmungslos bescheidwissend, dann frage ich mich: Wie sähen Zeitungen aus, wenn Kommentatoren einzig nur über Misstände urteilen würden, zu deren Behebung sie selber einen Teil beitragen können? Alles wäre weniger laut, aber vielleicht ansteigend lauter. Es geht da um Konsequenz, um die Berührungszartheit zwischen Sein und Schein, zwischen dem bedeutungsvollen Gestus und der dahinter ein wenig zurückbleibenden Gabe. Der berühmte Finger Gottes und der Finger Adams auf dem Gemälde von Michelangelo. Jener elektrisierende Moment, bevor die Finger sich berühren. Diesen Moment befördert das denkende Zuschauen. Augenmaß. Durchblickversuch aus wohlbedachter Entfernung. Distanz als Prämisse, um erkennen zu können. Aber wenn du dann erkennst und in der Erkenntnis bis ins Mark erschüttert wirst, was dann? Würden unsere Biografien nicht zusammenstürzen, nähmen wir die Kunst ernst und ihre Hauptfrage: Geld oder Liebe?
Einer der Zuschauer im Stück wird nach dem Theatererlebnis seinen Job bei der Boulevardzeitung schmeißen. Zu viel Hamlet inhaliert: Würde, Sinn, Wahrheit – da kehrst du nicht freiwillig zurück in den Schmutz. Ein Minister kippt, weil er nach dem Thea- terbesuch und also nach Begegnung mit rebellischem Geist öffentlich über »Umsturz« fabuliert. Kunst verdirbt: Sie macht ehrlich. Kunst schadet: Sie macht Selbstpanzerungen porös.
Natürlich offenbart das Stück auch mit (Selbst-)Ironie den illusionären Charakter solcher Direktübertragungen des hohen Wortes in unser realitätsgepeinigtes Gemüt. Denn zumeist folgt man der hehren Fiktion für die Dauer eines schönen Moments – und betrügt sie dann. Das lehren jeder Gottesdienst, jedes Kunstwerk, jede politische Utopie. Du bist Ketzer beim Bier, Christ zu den Feiertagen, und nachts, im Elend der Schlaflosigkeit, tippst du dich – anonym und jargonscharf! – hinein in die Kommentarspalten deiner Online-Community. Das war’s. Der Rest: Man ist langweilig.
Mir fällt ein Standarddialog des Alltags ein. Du trittst jemandem aus Versehen auf den Fuß, bittest um Entschuldigung, der Betroffene sagt: Keine Ursache! Als wärest du ohne jedes Gewicht, ein Nichts – du bist kein Verursacher, also auch ohne jede Wirkung. Bei solcher Konversation müsste man glatt noch mal zutreten. Wenn man denn mehr als ein Nichts wäre.
Nicht mal zwei Stunden Aphorismen-Essayistik, verteilt auf sinnende, stürmische Komödianten. Unterhaltsam. Nachziehend im Gedächtnis. Gebunden durch eine Irrsinnsmusik. Im 1. Rang spielt die Band »Woods Of Birnam«, angeführt von Schauspieler Christian Friedel (Dresdens Hamlet und Don Carlos, eine Hauptgestalt in Michael Hanekes »Das weiße Band« und der Georg Elser in Oliver Hirschbiegels gleichnamigem Film). Gnadenlos stimmiger Pop, rau und romantisch, dein zuhörendes Herz, könnte man’s anfassen, fühlte es sich bestimmt an wie ein schön nasser Batzen Moos. Alles wild, waldtief und wuchernd mit Klangkraft. Friedel spielt selber mit bei den »Zuschauern«, vor allem aber ist er, in schwarzem Mantel, mit dunkler Brille und streng gescheitelter Frisur, ein dämonischer Dirigent seiner Band. Nosferatu auf »Cabaret«-Abstecher. Der grandios geschmeidige Regent der musikalischen Illustration und Illumination. Und immer wieder eigene, englische Songs von Friedel, die eine alte Wahrheit bestätigen: Armut ist, wo eine Musik endet.
Es ist der Zuschauer, der im Theater die Aufführung hervorbringt.
Nächste Vorstellungen: 26. September, 4. Oktober