»Kollateralschaden« in Klinik von Kundus
US-Administration erklärt ihr Beileid, räumt die Täterschaft aber nur widerstrebend ein
US-Kampfflugzeuge haben in der afghanischen Stadt Kundus ein Krankenhaus bombardiert und dabei mindestens 19 Menschen getötet. Die USA sagten »Aufklärung« zu.
Erneut hat die US-Luftwaffe am Sonnabend bei einem Bombardement in Afghanistan am Krieg Unbeteiligte getötet. US-Präsident Barack Obama hat zwar noch am selben Tag zugesagt, die »Umstände der Tragödie« aufklären zu wollen. Auch erklärte er »im Namen des amerikanischen Volkes« gegenüber dem medizinischen Personal und anderen Opfern des »tragischen Zwischenfalls« sein Beileid. Ansonsten aber wird das Bombardement vom Pentagon bisher nicht eingeräumt.
Das wird man wohl etwas schuldbewusster tun müssen als bei manch ähnlich gelagerten Fällen in der Vergangenheit, wenn Hochzeitsgesellschaften, Dorfversammlungen oder vorgebliche Terroristenverstecke ins Visier genommen wurden. Die gegenteiligen Darstellungen der Opfer ignorierte man. Diesmal war das Angriffsziel aber eine Klinik der Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen (MSF) mit Sitz in Genf, der man kaum Verbindungen zu den Taliban oder anderen Freischärlern anhängen kann.
Versucht hat man es trotzdem. Der Versuch, die Klinik zum »legitimen Ziel« zu erklären, weil sich in ihr Taliban aufgehalten hätten, wurde aber schnell abgebrochen.
Die erste Stellungnahme der Militärs zu dem Überfall war ein Ausbund an Arroganz. Die NATO erklärte laut AFP: »Die US-Streitkräfte führten um 2.15 Uhr in Kundus einen Luftangriff gegen feindliche Kämpfer aus.« Der Angriff »könnte zu Kollateralschäden in einem nahe gelegenen Krankenhaus geführt haben.« USVerteidigungsminister Ashton Carter habe dazu gesagt, die US-Streitkräfte seien »in der Nähe im Einsatz« gewesen. Er habe damit aber nicht bestätigt, dass die USLuftwaffe angegriffen habe.
Die Behauptung mit den »feindlichen Kämpfern« dementierte MSF umgehend, verkündete seinen Rückzug aus Afghanistan, blieb in seiner Erklärung zur Sache aber recht milde. Das erste Statement, noch versehen mit Fotos der zerstörten Einrichtung, zog man zurück. In der folgenden Erklärung, ohne Bildbelege, ver- mied man es, die Täter beim Namen zu nennen.
Andere waren da deutlicher. Der Vorfall sei »absolut tragisch, unentschuldbar und vielleicht sogar kriminell«, zitiert AFP den UN-Hochkommissar für Menschenrechte, Seid al-Hussein aus Jordanien. Er forderte eine transparente Untersuchung. Sollte sich der Vorfall vor einem Gericht als vorsätzlich herausstellen, »könnte ein Luftangriff auf ein Krankenhaus ein Kriegsverbrechen darstellen«.
Über die ersten deutschen Reaktionen kann man sich nur wundern. Bundesverteidigungsministerin Ursula von der Leyen strebe inzwischen eine Verlängerung des Bundeswehreinsatzes um ein Jahr an, heißt es laut »Welt am Sonntag«. Auch EU-Parlamentspräsident Martin Schulz (SPD) zeigte sich gegenüber der Essener WAZ offen für eine Verlängerung des Einsatzes.
»Der Angriff könnte zu Kollateralschäden in einem nahe gelegenen Krankenhaus geführt haben.« Ashton Carter, US-Verteidigungsminister
Die Eroberung von Kundus durch die Taliban hat Rufe nach einer Verlängerung des Militäreinsatzes dort ausgelöst. Und Verhandlungen? Rückblick auf das Versagen der Diplomatie in dem Konflikt
Trotz aller gegenteiligen Rhetorik und eines westlich gesponserten »Friedens- und Versöhnungsprogramms« der afghanischen Regierung hat es wirkliche Friedensverhandlungen in Afghanistan seit dem Sturz des Taliban-Regimes 2001 nicht gegeben. Internationale Hybris und afghanisches Elitenversagen verhinderten das.
Die USA lehnten es während der gesamten Regierungszeit von George W. Bush (2001 - 2009) ab, mit den Taliban überhaupt nur zu reden. Dahinter stand das Missverständnis, die Taliban seien zusammen mit Al Qaida eines unauflöslichen »terroristischen Syndikats«. Bruchlinien wurden ignoriert, etwa der Widerspruch zwischen der auf Afghanistan gerichteten Agenda der Taliban und der internationalen Dschihad-Strategie Al Qaida. Zudem verübelten die Taliban es Al Qaida, dass sie wegen der Anschläge des 11. September 2001 die territoriale Kontrolle über Afghanistan verloren. Es gab aber auch symbiotische Beziehungen zwischen beiden, vor allem aufgrund der über Al Qaida kanalisierten finanziellen Hilfe aus Golfstaaten für die Taliban (und der Dankbarkeit für die Unterstützung der Araber im Kampf gegen die sowjetische Besatzung in den 1980er Jahren). Die Taliban stellten Al Qaida im Gegenzug ein »befreites Territorium« – oder »dar us-salam« – zur Verfügung, das im dschihadistischen Dogma für die Führung eines legitimen Dschihad unabdingbar ist.
Anstatt auf Gespräche, setzten die USA auf einen militärischen Sieg – vergebens. Über all die Jahre hinweg blockierten sie sämtliche Ansätze, eine Gesprächsbrücke zu den Taliban zu schlagen – zu einem Zeitpunkt, an dem das noch möglich gewesen wäre. Waren die Taliban doch, wie Jochen Hippler schreibt, »nach ihrem Sturz politisch wie militärisch schwach« und hegten selbst »nicht die Erwartung, dass sie bald in eine starke Machtposition zurückkehren könnten«. Bereits Ende 2001 hatten wichtige militärische und politische Führer der Taliban-Bewegung, mit grünem Licht von ihrem obersten Chef Mulla Muhammad Omar, ein Kapitulationsangebot an den künftigen Staatschef Hamed Karzai herangetragen: Man betrachte die Existenz des »Islamischen Emirats« für beendet und akzeptiere Karzais Wahl zum Staatsoberhaupt auf der Bonner Afghanistan-Konferenz Ende 2001. Im Gegenzug fordere man die Gewährung von Schutz vor Verfolgung durch die intervenierenden westlichen Truppen.
Dieses Angebot schlugen Washington und Kabul in den Wind, ebenso die Möglichkeit, während der »Emergency Loya Jirga« Mitte 2002 über gewählte Delegierte, die früher mit den Taliban gearbeitet hatten bzw. ihnen nahe standen, Modalitäten einer Integration in das neue politische System auszuhandeln. Zwischen 2004 und 2007 schließlich versäumte es die afghanische Regierung ebenso wie ihre internationalen Alliierten, die in den Reihen der Taliban geführte Debatte zu nutzen, ob die durch den notorischen Kommandeur Mulla Dadullah aus Irak importierte Methode rücksichtsloser Selbstmordanschläge »islamisch« sei, da ihnen vor allem afghanische Zivilisten zum Opfer fielen. Im Zuge dieser Debatte gewann erneut ein Flügel der Taliban an Stärke, der eine politische Lösung zur Beendigung des Krieges befürwortete. Nach dem Tod Dadullahs (er fiel 2007 einem US-Luftschlag zum Opfer) und als Resultat des so genannten »surge« – der Entsendung zusätzlicher 33 000 US-Soldaten, mit deren Hilfe die Obama-Regierung zwischen 2010 und 2012 angesichts des anstehenden Truppenabzugsdatums (Ende 2014) die Taliban nun endlich ausschalten oder wenigstens an den Verhandlungstisch zwingen wollte – verloren die Gesprächsbefürworter ihre zeitweilige Dominanz aber wieder.
Erst 2011 gab es einen direkten Gesprächskontakt zur Taliban-Führung, allerdings entgegen dem Wunsch Washingtons nur zwischen den Taliban und der US-amerikanischen Regierung; die afghanische Regierung beteiligte sich nicht. Angebahnt worden waren diese Gespräche seit 2009 von der deutschen Bundesregierung mit Hilfe des Bundesnachrichtendiensts, und sie fanden in Katar statt.
Im Zuge dieser Gespräche wurde seit Januar 2012 die Eröffnung eines Taliban-Büros in Katar vorbereitet, um den Taliban eine offizielle Adresse außerhalb Pakistans zu verschaffen, das die Taliban schon lange nicht nur unterstützt, sondern auch zu kontrollieren versucht – eine Kontrolle, der sich die Taliban (oft fälschlicherweise als Marionetten Pakistans betrachtet) entziehen wollen. Die Direktgespräche zwischen den Taliban und den USA brachen im März 2012 zusammen, als die Taliban Washington vorwarfen, Zusagen nicht einzuhalten. (Der Kongress hatte sich geweigert, einem Gefangenenaustausch zuzustimmen.) Sie wurden mit Katar als Vermittler indirekt fortgeführt.
Die Karzai-Regierung stand diesen Kontakten nicht nur ablehnend gegenüber, sondern sabotierte sie aktiv mit dem Argument, die internationale Gemeinschaft habe »Afghan leadership« in allen »Versöhnungsbemühungen« zugesagt. Es sind Zweifel angebracht, ob Karzai – unbenommen seiner wiederholten, innenpolitisch scharf angegriffenen Verhandlungsangebote an die Taliban – überhaupt je an einer genuinen Machtteilung interessiert war und nicht vielmehr Zeit für seinen Machterhalt bis zum Ende seiner verfassungsmäßigen Amtsperiode 2014 zu schinden hoffte. Karzai benutzte vor allem einen Gesprächskanal zu der (allerdings mit erheblichem Abstand) zweitgrößten Aufstandsbewegung, der von Gulbuddin Hekmatyar geführten Hezb-e Islami Afghanistan (Islamische Partei Afghanistans). Diese ehemals antisowjetische Mudschahedin-Organisation ist formal in zwei Flügel gespalten: einer (der Hekmatyars) bekämpft die Regierung in Kabul, ein anderer war Teil der Karzai-Regie- rung und ist bei beiden derzeitigen Koalitionspartnern, dem Ghani- und dem Abdullah-Lager, hochrangig vertreten.
Die seit 2014 amtierende neue Regierung des Karzai-Nachfolgers Aschraf Ghani versucht nun, den Taliban-Unterstützer Pakistan über dessen Hauptverbündeten China unter Druck zu setzen, um die Aufständischen endlich an den Verhandlungstisch zu zwingen. Die Führung in Beijing sagte Präsident Ghani bei einem China-Besuch Ende 2014 zu, als Vermittler zu fungieren. Mitte Mai 2015 trafen sich Vertreter der afghanischen Regierung und der Taliban sowie pakistanische und chinesische Offizielle in der nordwestchinesischen Stadt Urumtschi. Kabul bleibt aufgrund der langjährigen Allianz Beijings mit Islamabad jedoch skeptisch, was die Rolle Chinas betrifft. Ein schneller Durchbruch ist nicht wahrscheinlich.
Parallel gibt es eine Reihe zivilgesellschaftlicher und Track-II-Vermittlungsversuche. Ende Juni 2015 saßen bereits zum zweiten Mal in diesem Jahr in Norwegen Vertreter der Taliban und der afghanischen Regierung zusammen und diskutieren friedensrelevante Fragen. Zudem tauschen sich Taliban und politische (darunter auch zivilgesellschaftliche) Aktivisten aus Afghanistan in diesem Jahr bereits mindestens dreimal über die Möglichkeiten eines Friedensprozesses aus. Anfang Mai 2015 luden zudem die Pugwash Conferences on Science and World Affairs, ein auch in Friedensfragen aktives, nichtstaatliches, internationales Netzwerk von Wissenschaftlern, das 1995 den Friedensnobelpreis erhalten hatte, etwa zwei Dutzend Afghanen verschiedener politischer Lager zu »inoffiziellen Gesprächen« nach al-Khor in Katar ein. Afghanische Regierungsvertreter nahmen zwar nicht teil, aber immerhin legte Kabul dem Treffen keine Steine in den Weg. Anfang Juni gab es bereits ein technisches Nachfolgetreffen in Dubai sowie ein Meeting in Norwegen zwischen Taliban-Vertretern sowie einigen führenden PolitikerInnen aus Afghanistan.
Zuviel Optimismus ist trotz dieser Initiativen unangebracht, denn niemand kann bisher sagen, ob und wann es wirklich zu substanziellen Friedensgesprächen kommen wird und ob diese tatsächlich zu einem Ergebnis führen. Bisher sind die Differenzen zwischen beiden Seiten sehr groß.
Auf Regierungsseite – und darüber hinaus in breiten Teilen der afghanischen Gesellschaft, auch der Zivilgesellschaft – bestehen etliche Hindernisse für Verhandlungen. In der Tat sind einige politische Fraktionen sowie beträchtliche Teile der afghanischen Zivilgesellschaft der Ansicht, »Verhandlungen seien falsch und unangebracht, weil der Gegner schließlich Gewalt anwende«. Sie zögen es vor, überhaupt nicht mit den Taliban zu verhandeln, geschweige denn sogar die Macht mit ihnen teilen zu müssen. Stattdessen hoffen sie, die afghanischen Streitkräfte könnten das erreichen, was zu Spitzenzeiten 140 000 westliche Soldaten (plus hunderttausende afghanische Soldaten und Polizisten) nicht geschafft haben: einen militärischen Sieg über die Aufständischen zu erringen.
Außerdem gibt es schlechte Erfahrungen mit »Friedensabkommen« aus der Zeit US-geführter Bemühungen, die zersplitterten antisowjetischen Mudschahedin-Fraktionen zu einen, und später, in den 1990er Jahren, nach dem Abzug der Sowjets von 1989, den Krieg zwischen denselben Fraktionen zu beenden. 1993 wurde selbst das von den gegnerischen Par- teien vereinbarte Islamabad-Abkommen gebrochen, auf das sie alle kurz zuvor an der Kaaba in Mekka, dem denkbar heiligsten Ort für Muslime, einen Eid abgelegt hatten. Des weiteren stehen etliche Vorbedingungen substanziellen Gesprächen im Weg.
Die gegenwärtige afghanische Regierung verlangt, dass die Taliban die aktuelle Verfassung akzeptieren, scheint allerdings nicht darauf zu bestehen, dass die Taliban vor der Aufnahme von Gesprächen ihre Waffen niederlegen, vielleicht, weil sie das auch gar nicht durchsetzen könnte. Dieser Ansatz ist aber schon während der westlich geförderten »Versöhnungs- und Wiedereingliederungsprogramme« gescheitert, genauso wie das Konzept der »Zehn-Dollar-Taliban«, gemäß dem Taliban für Geld aufseiten der Regierung kämpfen sollten.
Auch bei den Taliban verhindern zahlreiche Hürden die Aufnahme erfolgversprechender Gespräche. Zum einen lehnen sie nach wie vor einen direkten Dialog mit der als »Marionette« geschmähten Regierung in Kabul ab, egal ob unter Karzai oder Ghani, auch wenn die beiden Treffen in Norwegen sowie das Meeting in Urumtschi darauf hindeuten, dass diese Position sich trotz jeweiliger Dementis langsam aufzuweichen scheint. Erst sollen jedoch alle ausländischen Truppen abziehen. Ghani hat die USAmerikaner aber eben erst gebeten, noch über den vereinbarten Abzugstermin Ende 2016 hinaus Truppen im Land zu belassen; auch die NATO wird in Afghanistan weiter mit einer »zivil geführten« Mission präsent sein.
Ebenso wenig ist klar, welche politischen Zukunftsvorstellungen die Taliban für Afghanistan hegen, noch, ob ihre positiven Positionsveränderungen in Sachen individueller Rechte, Minderheitenfragen, Zugang zu Bildung und Akzeptanz der Unmöglichkeit eines Machtmonopols taktischer Natur oder genuin sind. Das Pugwash-Treffen in Katar ließ erkennen, dass ein tiefer Graben zwischen den Positionen über die künftige »Struktur des politischen Systems (und der Verfassung Afghanistans)« besteht, wie es im Abschlussbericht von Pugwash heißt. Die Regierung in Kabul verlangt weiter, dass die Taliban die geltende Verfassung anerkennen, während diese darauf beharren, es müsse eine neue Verfassung ausgearbeitet werden, da die gegenwärtige »im Schatten von B-52Bombern« entstanden sei, wie es auf ihrer Webseite heißt. Auch der Konsens, dass die Regierung Afghanistans »auf jeden Fall« islamisch sein soll, lässt viel Interpretationsspielraum zu. Wie islamisch? Was wird aus den existierenden, durch (wenn auch unsaubere) Wahlen gebildeten politischen Institutionen und den im Moment jedenfalls auf dem Papier garantierten Freiheitsrechten »für alle Bürger Afghanistans« – also Männer und Frauen gleichermaßen?
Immerhin bestand bei dem Pugwash-Treffen offenbar Einigkeit, dass keine Partei künftig ein Machtmonopol haben dürfe. Schon zuvor hatten die Taliban erkennen lassen, dass sie internationaler Kritik und Druck aus der lokalen Bevölkerung gegenüber nicht gleichgültig sind. So öffneten sie verschiedentlich zuvor von ihnen geschlossene Mädchenschulen wieder und unterstützten Impfkampagnen durch die Einhaltung kurzfristiger, inoffizieller Waffenruhen.
Andererseits halten sie sich nicht an die international akzeptierte Definition ziviler Ziele, die nicht angegriffen werden dürfen (z.B. ziviles Regierungspersonal), und nehmen seit Jahren und entgegen anderslautenden Statements bei ihren Angriffen eine hohe Zahl ziviler afghanischer Opfer in Kauf.
Zuletzt stuften sie offenbar selbst humanitäre Helfer aus »Invasorenländern« als legitime Anschlagsziele ein. Dadurch gefährden sie alle von westlichen Gebern finanzierte Entwicklungsprogramme und damit eine Hauptüberlebensgrundlage der Zivilbevölkerung, in deren Namen sie zu handeln vorgeben. Im Juni dieses Jahres lehnten sie zum wiederholten Male einen Aufruf zu einem Waffenstillstand über den Fastenmonat Ramadan ab und intensivierten in dieser Zeit sogar ihre Angriffe.
Trotz eines westlich gesponserten »Friedensund Versöhnungsprogramms« der Regierung in Kabul hat es wirkliche Friedensverhandlungen in Afghanistan seit 2001 nicht gegeben.