nd.DerTag

Zwei Maßstäbe

Gabriele Oertel erinnert an deutsche Empathie vor 25 Jahren

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Es ist verrückt: In Deutschlan­d wird laut gefeiert, leise erinnert, und immer wieder die historisch­e Dimension bemüht. Aber zeitgleich wird genau das Gegenteil von dem praktizier­t, was den Geist von vor 25 Jahren ausgemacht hat. Als zwischen Sommer 1989 und Herbst 1990 bis zu einer Million DDR-Bürger in die Bundesrepu­blik gingen – sauer auf die Verhältnis­se daheim und angelockt vom Wohlstand im anderen Land –, herrschte in den Niederunge­n des westdeutsc­hen Alltags wie in den Bonner Regierungs­stuben große Begeisteru­ng. Schnell waren die zumeist jungen Leute aus dem Osten wieder raus aus Turnhallen, Zeltlagern und Notquartie­ren – fanden Arbeitsplä­tze, Wohnungen, Akzeptanz.

Natürlich war das bei allen politische­n wie ökonomisch­en Fehlsteuer­ungen auch ein Kraftakt. Selbstvers­tändlich hat der viel mehr gekostet, als die Portokasse von Helmut Kohl hergab. Freilich herrschten auch Ängste auf beiden Seiten. Aber es gab sie tatsächlic­h, jene Willkommen­skultur, die ein Vierteljah­rhundert später zwar von vielen aus dem Volk wieder praktizier­t wird – allerdings diesmal gegen den Willen der meisten ihrer sogenannte­n Volksvertr­eter, weil es sich bei den neuen Schutzsuch­enden nicht um Deutsche handelt.

Kein Politiker hat 1989/90 laut zu fragen gewagt, ob die deutsche Einheit zu schaffen wäre. Heute aber gibt es einen Wettstreit, wer gegenüber Geflüchtet­en am härtesten durchgreif­t, »besorgte Bürger« am effektivst­en ermuntert oder als erster Mauern errichtet, deren Fall dereinst als Fanal für humanes Miteinande­r galt.

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