Denk nach, warum man flieht!
Künstlerin reist mit mobilem »Raum für Gedanken« durch Brandenburg.
Menschen können in einem »Raum für Gedanken« erzählen, was ihnen zu Flucht und Asyl einfällt. Das soll die Kommunikation der neuen Nachbarn verbessern.
Angefangen hat alles im Januar vergangenen Jahres. Die Potsdamer Fotokünstlerin Kathrin Ollroge hatte in ihrer Heimatstadt eine Bürgerversammlung besucht, in der es um die Unterbringung von Flüchtlingen im Gebäudekomplex Staudenhof ging. Es laufe einiges schief in der Kommunikation, dachte sich Ollroge. Sie überlegte, was sie selbst tun könnte.
Inzwischen bietet die Künstlerin bereits im zweiten Jahr einen Raum für Gedanken zum Thema Flucht und Asyl. Der Raum, das ist eine Art Gartenlaube, konstruiert aus Holzlatten und Plexiglasscheiben. Eingerichtet ist er mit altmodischen Sesseln und einem antiken Tisch. Davor steht eine kleine Kommode. Blumen und eine Tischdecke, mal kariert, mal gehäkelt, sorgen für Gemütlichkeit. Wer sich in den Raum hineinsetzt, kann seine Gedanken erzählen, aufschreiben oder in eine Schreibmaschine tippen. Ollroge serviert Kaffee und Brötchen, erklärt den Mechanismus der Schreibmaschine, hört zu. Die gesammelten Gedanken werden dokumentiert, ihre Urheber fotografiert.
Vier Bände mit je um die 80 Seiten sind auf diese Weise bereits entstanden und weitere sollen folgen. Dabei werden Fotos und Texte absichtlich so gemischt, dass die jeweiligen Meinungen anonym bleiben. Darum steht beispielsweise neben dem Foto des schwarzen Jungen Ibrahim der Text einer Frau, die inzwischen in Walddrehna-Pilzheide lebt. Diese erzählt: »Ich komme aus Tschetschenien, bin nicht so oft draußen, es ist langweilig da. Wir fahren mal zum Einkaufen mit dem Bus oder zwei befreundete russische Familien nehmen uns mit dem Auto mit. Hier gibt es nichts, aber ansonsten ist es wunderschön. In anderen Orten, wo wir vorher waren, war es schmutzig und die Menschen verstanden uns nicht. Meine Freunde waren vorher sechs oder sieben Monate in Schönefeld. Das war schwer. Wir sind froh, dass wir jetzt hier sind.«
Im vergangenen Jahr besuchte Ollroge die Regionen OstprignitzRuppin, Dahme-Spreewald, SpreeNeiße und Cottbus sowie das Westhavelland. Dieses Jahr war sie bereits in Elbe-Elster und kürzlich auch in Nauen im Osthavelland. Dort hatten bislang unbekannte Brandstifter die Sporthalle eines Oberstufenzentrums zerstört, in die übergangsweise Flüchtlinge einziehen sollten. Als wäre dies allein nicht genug, waren in Nauen mehrfach Neonazis gegen den Bau eines Asylheims aufmarschiert und sie hatten zusammen mit einem aufgebrachten Mob eine Sitzung der Stadtverordnetenversammlung gesprengt, in der es um dieses Asylheim ging.
Ollroge hatte wegen dieser Vorfälle ein mulmiges Gefühl, bevor sie sich auf den Weg nach Nauen machte. Doch nun sagt sie nach ihren Gesprächen dort: »Die Angst vor Fremdenfeindlichkeit ist größer als die Angst vor Fremden.« Schüler in Nauen fürchten Ollroge zufolge, dass auch auf ihre Bildungsstätte ein Brandanschlag verübt werden könnte, und Einwohner sorgen sich um das Image ihrer Heimatstadt, ärgern sich, wenn Nauen nun der Ruf eines Nazinestes anhaftet.
Mit ihrem Raum für Gedanken ist die 46-jährige Künstlerin niemals allein unterwegs. Immer ist eine ihrer vier Assistentinnen dabei, zum Beispiel die Fotografin Barbara Thieme. Auch in einer anderen Hinsicht muss sich Ollroge nicht allein gelassen fühlen. Ihr Projekt wird von der Landeszentrale für politische Bildung und vom Sozialministerium finanziell gefördert.
Die Künstlerin fährt aber nicht nur kreuz und quer durch Brandenburg. Auch in Thüringen und Sachsen-Anhalt ist sie schon gewesen und außerdem ein paar Tage in Sachsen. Dort im Freistaat hat sie eine besonders negative Stimmung wahrge- nommen. Sie sei aber zu kurz in Sachsen gewesen, um ihren Eindruck verallgemeinern zu können, sagt sie.
Intensiv ist dagegen die Begegnung mit Flüchtlingen und Einheimischen im brandenburgischen Walddrehna gewesen. Als Nachbarin hat Ollroge mitten unter ihnen eine Woche lang in einem Häuserblock übernachtet, in einer Gästewohnung. Ihren damals zweijährigen Sohn hatte sie dabei. Er besuchte tagsüber den hiesigen Kindergarten. Von Walddrehna aus machte Ollroge mit ihrem mobilen Wohnzimmer Abstecher nach Luckau.
In dem Band, der daraus entstanden ist – er enthält außerdem auch noch Fotos und Texte aus Königs Wusterhausen – heißt es in der Einleitung: »In den Gedankenblättern zeigen sich viele kritische Stimmen. Unreflektierte, unzufriedene und ablehnende Äußerungen gibt es gleichermaßen zu hören wie Mitgefühl und Hilfsbereitschaft. Trafen im mobilen Wohnzimmer gelegentlich zwei oder mehrere Menschen mit unterschiedlichen Auffassungen aufeinander, entstanden durchaus angeregte Debatten. Die Hoffnung bleibt, dass manches Argument für Toleranz und Akzeptanz in den Köpfen hängen bleibt, nachwirkt und dazu beiträgt, dass ein hautfarben-, religionsund kulturunabhängiges, friedliches Mit- und Füreinander mit der Zeit zur Selbstverständlichkeit wird – auf dem Land und in jeder Stadt.«
Ganz unterschiedliche Auffassungen sind nachzulesen. »Wenn ich an Flüchtlinge denke, fühle ich ihre Hoffnungen und schäme mich oft für ihre Behandlung in unserem Land«, verrät eine Frau aus Walddrehna. Eine andere Frau von dort bedauert: »Schade, dass ich den Kennenlernabend im Sportlerheim verpasst ha- be. Die Jungs sind gute Fußballer, das sehe ich. Aber ich fände es toll, was ganz anderes zu erfahren. Mich würden die Kulturen interessieren. Wie leben sie, was essen sie?«
Eine Frau erinnert sich in Luckau: »Ich habe in der DDR lange Jahre mit Leuten aus Vietnam und Mosambik zusammengearbeitet. Wir haben uns da gut verstanden ... Ich habe absolut nichts gegen Ausländer, nur ist das, was in Deutschland passiert, nicht gerade gut. Viele haben keine Arbeit und auch nur wenig Geld. Das kostet auch so viele Steuern...«
In Königs Wusterhausen sagt ein Mann: »Ich wohne in Bestensee. Das Flüchtlingsheim ist in der Nähe, in Pätz. Es spricht sich herum, wenn 150 Flüchtlinge angesiedelt werden und da nach fünf Tagen 30 gestohlene Fahrräder aus dem Lager geholt werden. Ich muss ehrlich sagen: Mich ärgert das. Zuerst sollten die Deutschen alle Wohnungen haben.«
Einige Nachbarn beschweren sich, dass es zu laut sei und die Flüchtlinge nachts nicht das Licht im Hausflur abschalten oder ihren Müll einfach ir-
»Die Flüchtlinge bekommen doch alles hier umsonst, ohne dafür gearbeitet zu haben. Unsere Steuergelder werden verballert.« Mann, Jahrgang 1939 »Die Menschen, die hier herkommen, sind zu Recht hier. Man muss ihnen helfen ... Nach dem Zweiten Weltkrieg hatten wir das doch selbst. Man müsste noch an viele andere Dinge erinnern.« Frau, Jahrgang 1941
gendwo hinwerfen. Die Eltern sollten auch besser auf die Kinder aufpassen, sie nicht allein unten spielen lassen, wo sie dann vor die Autos laufen. Andere Nachbarn freuen sich, dass es endlich wieder lebendig geworden ist auf dem Spielplatz im Hof. Einer schenkt den Flüchtlingskindern Süßigkeiten und bedenkt erst nicht, dass die Gummibärchen wegen der enthaltenen Gelatine vom Schwein für Muslime nicht geeignet sind.
Die Kinder verstehen sich schnell, spielen zusammen. Nur dürfen einige die Flüchtlinge nicht zu Hause besuchen, weil die Eltern ihnen das verbieten. Auch umgekehrt gibt es derartige Verbote. Aber ein Mädchen hat sogar schon einmal bei ihrer Freundin im Asylheim übernachtet.
An diesem Montag macht Kathrin Ollroge in Brück Station, am Dienstag in Treuenbrietzen.