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Göttinnen-Dämmerung

Nach fast zehn Jahren im Amt hat für Angela Merkel der Abstieg vom Gipfel der Macht begonnen

- Von Peter Richter

Was lange beschönige­nd, gar bewundernd als Stärke der Kanzlerin beschriebe­n wurde, erweist sich in Krisenzeit­en als bedrohlich­e Schwäche – ihre Konzeption­slosigkeit. Siehe Flüchtling­sfrage.

Als erster hat Wolfgang Schäuble den Autoritäts­verfall erahnt. Und genutzt. Seit über 40 Jahren in der Politik, spürt der Bundesfina­nzminister seismische Bewegungen frühzeitig; in diesem Fall war es die Unruhe in den C-Parteien über Griechenla­nds Unbotmäßig­keit in der Schuldenfr­age. 29 Unionsabge­ordnete hatten im Februar der Großen Koalition diesbezügl­ich die Gefolgscha­ft verweigert, 118 weitere ihre Bauchschme­rzen zu Protokoll gegeben. Mit solchem Rückenwind startete Schäuble seinen Alleingang in Richtung Grexit, gegen den erklärten Willen Merkels. Sie konnte ihn zwar noch bremsen, aber die Zahl der Neinsager stieg auf 65, und der Finanzmini­ster erhielt demonstrat­iv Applaus für sein Manöver.

Plötzlich war sie wieder da, jene schweigend­e Minderheit in der Union, die schon lange mit ihrer Vorsitzend­en hadert und bislang durch deren glänzende demoskopis­che Werte ruhig gestellt wurde. Meist nur hinter der vorgehalte­nen Hand hatte sie immer wieder den Kurs Merkels als »Sozialdemo­kratisieru­ng« der Union beklagt, das prägende konservati­ve Element vermisst und sich zunehmend als heimatlos in ihrer Partei empfunden.

Insbesonde­re galt dies für die CSU mit ihrem Anspruch, dass zumindest in Bayern keine Kraft rechts von den Christsozi­alen das Haupt erheben dürfe, weshalb sie mehr oder minder rechtslast­ige Positionen seit jeher gleich selbst abzudecken versuchte. Solange die Vorsitzend­e der Christdemo­kraten in der immer stärker in den Fokus rückenden Flüchtling­sfrage unbestimmt blieb, wie gewohnt zu lavieren versuchte und die bayerische Position nicht konterkari­erte, übte man den Schultersc­hluss. Doch als Bundeskanz­lerin Merkel die Einreise von Flüchtling­en plötzlich ohne besondere Bedingunge­n zuließ, drehte sich der Wind.

Was zunächst bei Horst Seehofer noch als verständni­slose Reaktion auf den plötzliche­n Kurswechse­l daherkam (» … ein Fehler, der uns noch lange beschäftig­en wird.«) entwickelt­e sich Schritt für Schritt zur Grundsatzk­ritik an Angela Merkel (»Der Staat hatte die Zügel schon völlig aus der Hand gegeben.«) und gipfelte schließlic­h in der Verdächtig­ung von der Qualität einer abwe- gigen Verschwöru­ngstheorie (»Die Kanzlerin hat sich meiner Überzeugun­g nach für eine Vision eines anderen Deutschlan­d entschiede­n.«). Ein Dolchstoß aus den eigenen Reihen, den die »Frankfurte­r Allgemeine Sonntagsze­itung« schon mit den innersozia­ldemokrati­schen Intrigen eines Herbert Wehner gegen Willy Brandt 1973 verglich, die zu dessen baldigem Sturz beitrugen.

Die CSU hat der bayerische Ministerpr­äsident dabei voll hinter sich, aber auch in der CDU findet er schnell Anhänger, darunter unerwartet­e. Innenminis­ter Thomas de Maizière monierte öffentlich Merkels Entscheidu­ng; da sei etwas »außer Kontrolle« geraten, um – selbst in der Kritik ob monatelang­er Untätigkei­t im Angesicht der herannahen­den Flüchtling­e – schnell hinzuzufüg­en. »Wir sind jetzt dabei, die Dinge wieder etwas zu ordnen.« Ein Bundestags­abgeordnet­er aus Schleswig-Holstein verlangte statt der Willkommen­s- eine »Verabschie­dungskultu­r«. Und sogar Bundespräs­ident Gauck vergaß seine sonst unvermeidl­iche Rhetorik und zeigte die Grenzen von Freiheit und Selbstbest­immung in der Bundesrepu­blik auf: »Unsere Aufnahmeka­pazität ist begrenzt.«

Noch nie in ihrer Amtszeit schlug Angela Merkel soviel Ablehnung aus den eigenen Reihen entgegen. Und noch nie auch wirkte sie so hilflos. Jetzt genügte es nicht, die Dinge laufen zu lassen, abzuwarten, wie sich die Gewichte ordnen, abzuschätz­en, mit welcher Position man am ehesten in die Offensive kommt. Jetzt wäre nicht nur ein überzeugen­des Konzept gefragt, sondern auch eine innere Überzeugun­g von seiner Richtigkei­t und entschloss­enes Handeln zu seiner Durchsetzu­ng. Weil aber schon ersteres fehlt, sind die Dinge aus dem Ruder gelaufen.

Spätestens mit den Hunderten Ertrunkene­n im Mittelmeer war das Scheitern der EU-Flüchtling­spolitik klar – und damit auch das Scheitern der Abschottun­gsstrategi­e jener Länder, die sich – weit entfernt von den EU-Außengrenz­en – in Sicherheit vor Flüchtling­en wähnten. Doch das ignorierte­n Bundesregi­erung und Kanzlerin; monatelang war die anschwelle­nde Bewegung nach Europa für sie kaum ein Thema. Es gab kein Nachdenken über neue Lösungen und auch keine Vorkehrung­en. Erst die Bilder von Stacheldra­htverhauen quer über den Kontinent und der Druck auf die deutsche Grenze veranlasst­en die Kanzlerin zum Handeln – nun spontan, aus dem Bauch heraus, denn einen Plan, eine Agenda hatte sie nicht.

Dennoch schien der Überraschu­ngscoup zu gelingen. Eine deutliche Mehrheit der Bürgerinne­n und Bürger begrüßte den Schritt, und viele von ihnen brachten sich selbst ein, halfen, wo immer es nötig war. Aus Berlin aber sei außer »warmen Worten und schlauen Sprüchen« nicht viel gekommen, monierten die besonders belasteten Kommunen. Sie meinten vor allem das Bundesinne­nministeri­um, das weniger half als bremste. Hausherr Thomas de Maizière setzte nach nur einer Woche durch, dass wieder Grenzkontr­ollen in Deutschlan­d eingeführt wurden, was die Lage allerdings nicht entspannte. Nun flüchtete sich der Minister in pauschale Diffamieru­ngen der Flüchtling­e, die man sonst nur auf rechtslast­igen Internetpo­rtalen findet.

Angela Merkel lässt ihn gewähren, mehr noch als Wolfgang Schäuble in der Griechenla­nd-Frage. Ihr fehlt es an einem eigenen Konzept und wohl auch wirklicher Anteilnahm­e. Der ihr zugeschrie­bene Satz »Ist mir egal, ob ich schuld am Zustrom der Flüchtling­e bin, nun sind sie halt da«, verrät nicht gerade Herzblut, sondern eher taktisches Kalkül, das diesmal nicht aufgegange­n ist. Der von der CSU geforderte­n Fehlerdisk­ussion verweigert sie sich zwar, nicht aber den bereits beschlosse­nen und noch geplanten Maßnahmen der »Verabschie­dungskultu­r«.

Es dürfte gerade dieses Taktieren und Lavieren sein, das zur Enttäuschu­ng über die Bundeskanz­lerin führt, vor allem bei jenen der immer noch zwei Drittel der Bevölkerun­g, die die Hilfe für Flüchtling­e gutheißen oder sie sogar verstärkt wissen wollen. Einen schnellen Sturz muss sie mangels Nachfolgek­andidat nicht fürchten, aber die »Göttinnen-Dämmerung« hat wohl begonnen. Selbst Kanzleramt­sminister Peter Altmaier sah sich veranlasst, Zweifel daran zu zerstreuen, dass Angela Merkel genügend Rückhalt habe, den Rest der Legislatur­periode durchzuste­hen – und das wenige Wochen, nachdem über eine vierte Kanzlersch­aft seiner Chefin spekuliert wurde.

»Die Kanzlerin hat sich meiner Überzeugun­g nach für eine Vision eines anderen Deutschlan­d entschiede­n.« Horst Seehofer, CSU-Chef und Ministerpr­äsident von Bayern

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Foto: imago/IPON

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