Alptraum der Abstraktion
Ivan Panteleev inszenierte »Peer Gynt« am Deutschen Theater
Heller Sand, der den Bühnenboden in dünner Schicht bedeckt, knirscht bei jedem Schritt. Es klingt wie Schnee, aufreizend monoton. Was also gibt es Neues im Peer-GyntUniversum? Oder anders gefragt: Gibt es denn überhaupt noch etwas, das die Erwartung im Warten wachhält? Ivan Panteleev ist es ernst mit dieser Frage, wie ernst, das sah man unlängst bei seiner bezwingenden Inszenierung von »Warten auf Godot« hier am Deutschen Theater.
Ausgesetzt in der Sand-SchneeWüste zwei Schauspieler, aber was für welche: Margit Bendokat und Samuel Finzi! Sie perfektionieren den Minimalismus der Bewegung, stehen aufreizend starr in der Kulisse, zu der auch eine Art von innen erleuchteter Western-Planwagen (Bühne: Johannes Schütz) gehört. Der hat Kufen und scheint das einzig Bewegliche an diesem vorsätzlich statischen Abend zu sein. Vielleicht zerfetzt Peer Gynt darum die papierne Plane in einer der wenigen Handlungen, zu denen er sich aufrafft, aber auch dies quälend langsam und umständlich, randvoll von vergrübeltem Überdruss und um jeden Anflug von Affekt gebracht. Schließlich sind da nur noch Fetzen von etwas, das zum Gestern gehört. Wir hören, was Ibsens Peer Gynt von Weltveränderung hält: »Tat bedeutet noch lange nicht leben. Höchstens eine Abart von Leben.«
Antworten gibt es hier nicht, in dieser sich nur einen spaltbreit öffnenden hermetischen Fantasiewelt Peer Gynts, dafür immer neue Ausflüchte. Er ist uns unerreichbar fremd geworden, findet aus der labyrinthischen Fabelwelt, beherrscht von einer übermächtigen Mutter und tückischen Trollen, nicht mehr heraus. Eine sinnfällige Einsicht, aber auch Spielstoff für die kommenden gut hundert Minuten? Es scheint von Anfang an klar: Panteleev liest Ibsen über Beckett. Das ist konsequent endzeitlich, das ist schlüssig gedacht. Aber damit versperrt er auch den einzigen Weg zur Rettung, den Ibsen für seinen von Lebensekel getriebenen Peer Gynt noch sieht: die selbst geschaffenen Fantasiewelten auch zu bewohnen, ein Exil zu finden, in das sich die eigene Autonomie vor dem Zugriff der hässlichen Welt flüchtet. Diese Reduktion mitzuerleben, ist auf anstrengende Weise ernüchternd. Ein traumloser Abend über einen traummüden Helden, dessen gelegentlich groteske Verrenkungen zeigen, dass er zu viel weiß von jenen Illusionen, mit denen man sich die Lebensreise erleichtert.
Von Billy Wilder weiß man, dass er, wenn er als Regisseur nicht weiterwusste, ausrief: »Wie hätte Lubitsch das gemacht?« Aber Ernst Lubitsch war tot, er konnte ihm nicht helfen. Hilf dir selbst! Bei Ivan Panteleev glaubt man bei diesem »Peer Gynt« an den Kammerspielen des Deutschen Theaters immer den stil- len Hilferuf zu hören: »Wie hätte Gotscheff das gemacht?« Aber Panteleevs langjähriger Mentor Dimiter Gotscheff, der Minimalist aus Instinkt und Pathetiker aus Notwehr gegen eine triste Welt der Kalküle, ist tot, und Panteleev müsste jetzt anfangen, sich selbst zu helfen. Man wartet auf den befreienden Kraftakt, mit dem er aus dem Schatten Gotscheffs heraustritt.
Da geht es dem Zuschauer wie Becketts Godot: Man wartet und wartet. Dabei: Was für eine Chance, mit Peer Gynt das Terrain der introvertierten Textexegese hinter sich zu lassen und sich in die grell-expressive Gegenwelt von Rausch und Taumel hineinzustürzen! »Peer Gynt« ist schließlich Ibsens morbider Sommernachtstraum, halb Faust im Hochgebirge, wo die Einsamkeit klirrt, halb Eichendorffs »Taugenichts«, der sich an seinen südlichen Fantasien wärmt und die schreckliche Welt anderswo schrecklich sein lässt. Peer Gynt: ein Handlungsverweigerer allerdings, der mit hochmütiger Beharrlichkeit seinen Traum inklusive Alptraum bewohnt. Ein vorsätzlich nutzloser Fels in der Brandung der Handelnden um des Handelns willen. Eine von Schuldzuweisungen belagerte Fiebermuse ist es, die ihn führt. Aber wohin? »Vielleicht werde ich auch noch ein fetter braungebrannter Bauer.« Wäre angesichts der sonstigen Nicht-Handlungsoptionen kaum das Schlechteste.
»Peer Gynt« gilt immer mal wieder als unspielbar. Jan Bosse hat mit seiner prallvollen Inszenierung vor einigen Jahren am Hamburger Thalia Theater das Gegenteil bewiesen, mit Jens Harzer als einem Peer Gynt, der jederzeit ekstatisch ins Jenseits der Fabelwelten abzufliegen gewillt schien. Ein Märchen, an das man trotz aller Kälteströme in Bosses Inszenierung glauben wollte. Samuel Finzi aber fliegt nicht, er kriecht am Boden des Traums entlang. Ein Entfesselungskünstler mit Amnesie im ungünstigsten Augenblick: Der Knoten bleibt allzeit ungelöst. Von der rabiaten Mutter in die Welt der Mythen gestoßen, dorthin, wo die Kindheitsträume alle auf furchtbare Weise Wirklichkeit werden, stumpft er ab. Panteleev demonstriert hier, dass er an Märchen unter keinen Umständen zu glauben gewillt ist. Ein Fortschritt? Vielleicht, aber nicht für das Theater.
Der Regisseur liest das Stück als frühes Dokument der Psychoanalyse: Gynt als Chiffre für das große Unbehagen in der herrschenden Kultur. Das ist erst einmal eine Behauptung, die es sinnfällig zu machen gilt. »Peer, du lügst!« fährt die Mutter den Sohn an, sobald dieser die Wirklichkeit zur Möglichkeit umbiegt. Das wäre dann die neue Welt, die er entdecken könnte, wäre sie nicht von Anfang an mit dem Bann der Mutter belegt, kontaminiertes Gelände, ganz und gar unbewohnbar.
Das frühe Traum-Verbot verwandelt die hilfreichen Geister der Fantasie in böse Dämonen. Lügen, so heißt es bei Johann Georg Hamann sei »die Muttersprache unserer Vernunft und unseres Witzes«. Denn der Mensch als schwaches Tier überlebte nur, weil er sich zu verstellen lernte und so eine Vorstellung von dem gewann, was er werden könnte. Eine Befreiungstat, aber eben nicht hier in Panteleevs traum-verlorener Lesart des »Peer Gynt«, die an Robert Musils »Mann ohne Eigenschaften« erinnert, wo alle Identität unter dem Vorbehalt des »als ob« steht.
Allerdings, die Lüge bei Ibsen hat noch eine andere Dimension, von der Joseph Conrad in »Das Herz der Finsternis« schreibt: »Ihr wisst, ich hasse und verabscheue die Lüge, kann sie nicht ertragen, nicht weil ich aufrichtiger bin als der Rest von uns, sondern weil etwas vom Makel des Todes, vom Beigeschmack der Sterblichkeit in der Lüge ist.« Darum geht es am Ende immer: Peer Gynts lange Reise durch die innere und äußere Welt ist zuletzt eine Reise in den Tod. Die Frauen (Ingrid, Solveig), denen er unterwegs begegnet, zu denen ein irrer Trieb ihn treibt, sind lauter Projektionen, ein endloser Bilderstrom, der spurlos im Nichts verschwindet. Die Welt, die Peer Gynt gefangen setzt, besteht aus lauter Fiktionen. Und woraus besteht er selbst?
Margit Bendokat spielt, nein spricht, alle Frauenrollen zugleich, ohne aufwendige Kostümwechsel, nur ihre Stimme mal einige Tonlagen höher, mal tiefer. Gewiss scheint es legitim, »Peer Gynt« gleichsam tiefgefroren als Post-Beckett-Studie für zwei Personen auf die Bühne zu stellen. Aber blüht hier noch was? Das dialektisch unvermeidliche Resultat dieses Feldversuchs: Die Abstraktionen schießen ins Kraut und okkupieren nach und nach die Bühne.
Gotscheff wüsste Rat: Nicht denken, spielen! Aber das GedankenKorsett, das Panteleev hier seinen beiden Schauspielern verordnet hat, ist eng und sitzt zudem so unbequem, dass sich das Unbehagen beim Zuschauen überträgt.
Panteleev demonstriert, dass er an Märchen unter keinen Umständen zu glauben gewillt ist. Ein Fortschritt? Vielleicht, aber nicht für das Theater.
Nächste Vorstellungen: 6., 7. und 15. Oktober (alle ausverkauft), 5., 18. und 25. November