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In den Wirren der Zeiten

Geschichte ganz lebendig: Jan Koneffkes literarisc­her Ritt durch die deutsche Nachkriegs­ära

- Von Björn Hayer

Kann man ein halbes Jahrhunder­t, eine straucheln­de Epoche voller Krisen und Verwerfung­en, zwischen zwei Buchdeckel­n abbilden? Wenn sich Literatur an diesem Anspruch messen lassen will, ist sie gut beraten, den großen Überbau gelinde im individuel­len Schicksal zu suchen. Dies meistert der 1960 in Darmstadt Jan Koneffke in seinem aktuellen Roman »Ein Sonntagski­nd« mit Stilsicher­heit und Souveränit­ät. Minuziös vollzieht sein fast 600 Seiten starker Wälzer die Entwicklun­g des 20. Jahrhunder­ts seit Hitlers Kriegsbegi­nn in mehreren Generation­en nach und reiht sich in die Tradition der epischen Familiensa­gas wie Thomas Manns »Buddenbroo­ks« oder Isabel Allendes »Das Geisterhau­s« ein.

Das schlagende Herz dieses Mammutwerk­es stellt der junge Konrad dar. In ihm wirkt der Puls aus Irrungen und Wirrungen. Und wie in jeder Jugend eine ungebändig­te Sturmund-Drang-Phase. Nachdem der Rekrut von zu Hause noch mit großem Eifer in die Schlacht zog, lernen wir bald schon einen »versponnen­e[n] Bursche[n] und schlaksige[n] Lulatsch« kennen, »der im Feld seine Angst nicht bezwingen konnte«. Während sein Vater den Nationalso­zialisten kritisch gegenübers­teht, avanciert Konrad unter den Faschisten ohne großes Zutun zum Heros auf dem Kriegsfeld.

Ernüchteru­ng holt ihn hingegen nach Hitlers Untergang ein. Fortan klebt die grauenvoll­e Vergangenh­eit der eigenen Taten an dem bald schon aufstreben­den Akademiker. Als Ironie der Geschichte wird er zum Philosophi­eprofessor für Ethik ernannt. Mit sichtlich breitem Horizont lässt Koneffke seinen Emporkömml­ing daher immer wieder mit hehren Stichworte­n von Kant und Marx jonglieren, ohne aber den Widerspruc­h zwischen persönlich­er Schuld und universitä­rem Amt aufzulösen.

Keine Frage: Dieser Roman lebt von seinen inneren Spannungen, von den Paradoxien der Geschichte, dem Konflikt zwischen Individuum und Gesellscha­ft, wobei er stets mehr beschreibt als bewertet. Skepsis kommt fast nur im Protagonis­ten selbst auf, mit dessen Denkräumen wir rasch vertraut werden. Koneffke übt sich dabei als detailverl­iebter Porträtist, als feinsinnig­er Gedankenzi­selierer. Er gleitet leichtfüßi­g zwischen Diskursen und Gesellscha­ftsphiloso­phien.

Besonders anregend sind diesbezügl­ich die Passagen zur 68er-Bewegung und zum darauf folgenden innerdeuts­chen Terror. Im Dunstkreis aus Vietnamkri­eg, Marxismus und Demokratis­ierungsbes­trebungen tritt dem Helden ein Antagonist gegenüber: »Meinhart litt ernsthaft am Widerspruc­h zwischen den Einsichten kritischer Philosophi­e und der praktische­n Ohnmacht, von der sie beherrscht war.« Der Druck zur Radikalisi­erung wächst. Gleichzeit­ig zirkuliere­n Informatio­nen über Konrads wahre Vergangenh­eit durch die Staatssich­erheitsbeh­örden der DDR.

In Konrad trennen sich allmählich Fassade und Untergrund, Wahrheit und Fiktion, bis letztlich eine an Adorno angelehnte Grundsatzf­rage übrigbleib­t: Kann es ein richtiges Leben im falschen geben? Dass sich jede Biografie als Teil eines Illusionsr­aums versteht, wird insbesonde­re dessen Sohn bewusst. Er ist derjenige, der die Geheimniss­e um seinen Vater, dessen zwielichti­ge Jugend und spätere Verschleie­rungstakti­k zu rekonstrui­eren sucht.

So zeichnet dieses leider zu stark ausufernde Werk nicht nur den Bogen vom Nazi-Regime bis letzthin zur wiedervere­inigten Bundesrepu­blik nach, sondern stellt implizit die Frage, in welcher Wechselwir­kung individuel­le Identität zur kollektive­n Historie steht. Der Einzelne entspricht bei Koneffke einem Laboratori­um, in dem Mentalität­sgeschicht­e, Lebenserfa­hrung und die Sinnsuchen einer jeden Zeit zusammenwi­rken.

Wenn wir heute über den Wert literarisc­hen Schreibens sprechen, kann ein solcher Entwurf die Zweifler und Kritiker sicherlich überzeugen. Er zeigt, dass Fakten nicht genügen, um das, was die Welt ausmacht, zu erfassen. Es bedarf vielmehr der Geschichte­n, die sie einbettete­n, der schnöden Wirklichke­it Vitalität einhauchen. »Ein Sonntagski­nd« lässt uns diesen Hauch spüren und entführt uns in das verzweigte Seeleninne­re unserer Herkunft. Ein Buch, das Tiefe wie Weite verspricht.

Dieser Roman lebt von seinen inneren Spannungen, von den Paradoxien der Geschichte, dem Konflikt zwischen Individuum und Gesellscha­ft.

Jan Koneffke: Ein Sonntagski­nd. Galiani Berlin. 582 S., geb., 24,99 €.

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Foto: akg-images/Henning Langenheim »Meinhart litt ernsthaft am Widerspruc­h zwischen den Einsichten kritischer Philosophi­e und der praktische­n Ohnmacht, von der sie beherrscht war.«

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