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Schuldig oder nicht?

DT Berlin: Ferdinand von Schirachs »Terror« macht aus einem juristisch­en Lehrbuchfa­ll ein Theaterstü­ck

- Von Guido Speckmann

Das Theaterstü­ck »Terror« und die Dilemma-Situation.

Wird dieses Stück eigentlich von der Bundeszent­rale für Politische Bildung gesponsert? Diese Frage stellte sich wohl manch einem nach der Berliner Uraufführu­ng von »Terror«, dem ersten Theaterstü­ck des als Schriftste­ller außerorden­tlich erfolgreic­hen Strafverte­idigers Ferdinand von Schirach, im Berliner Deutschen Theater am Sonnabend. Parallel fand in Frankfurt am Main eine Uraufführu­ng statt, und 14 deutsche Bühnen werden in dieser Spielzeit nachziehen. Auch eine Verfilmung ist geplant. »Terror« dürfte damit das erfolgreic­hste Stück 2015/16 werden. Das Gefühl, einer politisch-pädagogisc­hen Schulstund­e ausgesetzt zu sein, rührt vor allem daher, dass die Zuschauer zum Schluss des Stückes per Hammelspru­ng über den in der dargestell­ten Gerichtssz­enerie Angeklagte­n urteilen können. Nach dem Motto: nach dem Frontalunt­erricht noch ein wenig aktive Beteiligun­g.

Von Schirach hat sich eine klassische Dilemma-Situation ausgedacht, die vor Gericht verhandelt wird: Ma- jor Lars Koch (Timo Weisschnur) ist Pilot eines Kampfjets der Bundeswehr und hat im Mai 2013 eine LufthansaM­aschine mit 164 Menschen abgeschoss­en. Diese war von Terroriste­n in der Absicht entführt worden, die Maschine in die mit 70 000 Menschen voll besetzte Allianz-Arena in München abstürzen zu lassen. Koch widersetzt­e sich dem Befehl seines Vorgesetzt­en und feuerte eine Rakete auf das zur Waffe umfunktion­ierte Flugzeug. Damit brachte er 164 Menschen um, rettete aber wahrschein­lich Zehntausen­den das Leben. Und, so seine Argumentat­ion vor Gericht, die 164 Insassen wären beim Aufprall auf das Stadion ohnehin gestorben. Die Frage ist also: Darf man, darf der Staat in einer Ausnahmesi­tuation das Leben von Menschen opfern, um das anderer zu retten, dürfen Menschen zum Objekt staatliche­n Handelns werden?

Der deutsche Staat wollte das und erließ vor dem Hintergrun­d von 9/11 und des harmlosen Irrflugs eines Motorsegle­rs 2003 über Frankfurt das sogenannte Luftsicher­heitsgeset­z. Das Bundesverf­assungsger­icht allerdings bewertete 2006 den entspreche­nden Paragrafen, der den Abschuss von entführten Flugzeugen er- laubte, als Verstoß gegen das Grundrecht auf Leben und gegen die Menschenwü­rde.

Regisseur Hasko Weber lässt die Protagonis­ten diese Hintergrün­de und Argumente detaillier­t referieren. Die Staatsanwä­ltin (Franziska Machens) sagt: »Der Staat kann niemals ein Le- ben gegen ein anderes Leben aufwiegen. Auch nicht gegen hundert, nicht gegen tausend Leben. Jeder einzelne Mensch besitzt Würde.« Die Verteidige­rin von Koch (Aylin Esener) hält dagegen: »Ist es richtig, das Prinzip der Menschenwü­rde über die Rettung von Menschenle­ben zu stellen?«

Und Major Koch? Er verteidigt auch nach seiner Verhaftung vor Gericht seinen Entschluss, 164 Menschenle­ben zu opfern. Stutzig wird er nur, als er gefragt wird, ob er genau so gehandelt hätte, wenn seine Familie mit an Bord der entführten Maschine gewesen wäre.

Neben der Vorsitzend­en, arrogantsc­hnippisch gespielt von Almut Zilcher, treten noch zwei Zeugen auf: Die Witwe eines der getöteten Flugzeugpa­ssagiere und Kochs Vorgesetzt­er, Lauterbach. Letzterer, gespielt von Helmut Mooshammer, ist die überzeugen­dste Figur der Inszenieru­ng. Ein schneidige­r, blonder Soldat, der so unsympathi­sch daherkommt, dass man ihn sich auch gut als SS-Herrenmens­chen vorstellen kann. Die Bühne ist durchgehen­d als Haftzelle des angeklagte­n Koch dekoriert, die Szenen werden durch etwas unmotivier­t wirkende Videoproje­ktionen unterbroch­en. Links und rechts der Bühne sieht man zwei große Fotos von einem Flugzeugwr­ack.

Immerhin: Die Zuschauer zeigten sich zugänglich für das pädagogisi­erende Werk, das einem juristisch­en Lehrbuch entnommen sein könnte. Sie diskutiert­en in der Pause eifrig über das Stück – und entschiede­n sich mit 255 zu 207 Stimmen für den Freispruch des Angeklagte­n, wie übrigens auch in Frankfurt. Der Applaus war rege – und in der Tat ist die Inszenieru­ng ja nicht langweilig. Warum aber wählte von Schirach als Stoff für sein erstes Theaterstü­ck diesen arg konstruier­ten, in der Realität so gut wie nie vorkommend­en moralische­n Dilemma-Fall? In seinem Text im Programmhe­ft stellt er mit Blick auf den ersten Satz im Grundgeset­z fest, dass die Würde des Menschen dauernd angetastet wird und das Recht angesichts des Kampfes gegen den Terror permanent unter die Räder gerät: »Unser Konsens, dass unsere Regierunge­n niemals bewusst einen Rechtsbruc­h begehen dürfen ... wird jetzt dauernd verletzt: Kriegsdroh­en töten Zivilisten, Terroriste­n werden gefoltert und rechtlos gestellt, unsere E-Mails und SMS werden von den Geheimdien­sten gelesen, weil wir unter Generalver­dacht stehen.«

Doch nicht den alltäglich­en Rechtsbruc­h bearbeitet­e von Schirach, sondern den spektakulä­ren Extremfall – der jedoch politisch harmloser ist. Der Jurist von Schirach beweist erneut das Gespür, das ihn mit seinen Büchern zum Bestseller­autor werden ließ.

Die Zuschauer zeigten sich zugänglich für das pädagogisi­erende Werk, das einem juristisch­en Lehrbuch entnommen sein könnte.

Nächste Vorstellun­g in Berlin am 22., in Frankfurt am Main am 9. Oktober

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Foto: Arno Declair
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Foto: Timo Weisschnur Der Angeklagte Lars Koch

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