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Hilferuf und Protest zugleich

In Berlin-Mitte kapitulier­t wieder ein Jugendamt vor der Arbeitsbel­astung

- Von Christin Odoj

Die Arbeit ist nicht mehr zu schaffen, deshalb wird ab kommendem Montag ein Teil des Jugendamte­s Mitte schließen. Der Protest richtet sich diesmal gegen ganz oben: den Regierende­n Bürgermeis­ter.

Jetzt ist es wieder so weit. Die Arbeitsbel­astung für Mitarbeite­r des Jugendamte­s Berlin-Mitte hat die Grenze des Ertragbare­n überschrit­ten. Ab kommendem Montag werden die etwa 50 Mitarbeite­rInnen des Regionalen Sozialpäda­gogischen Dienstes (RSD), die sich vor allem mit Kinderschu­tzfällen beschäftig­en, keine Sprechzeit­en mehr anbieten. Bereits 2013 hingen hier zum Zeichen der Kapitulati­on weiße Bettlaken aus den Fenstern. Die vier RSD-Abteilunge­n im Bezirk werden geschlosse­n und das bis Freitag. Die Maßnahme ist Hilferuf und Protest zugleich. »Die Regionalen Dienste im Jugendamt Mitte sind personell unterausge­stattet. Sie sind nicht mehr ausreichen­d in der Lage, ihre Aufgaben qualitativ und quantitati­v zu erfüllen«, heißt es auf feuerroten Infozettel­n, die in der RSD-Abteilung Grüntaler Straße in Wedding hängen. Ein Brandbrief an den Regierende­n Bürgermeis­ter Michael Müller (SPD) soll folgen.

In der Schließwoc­he beschäftig­en sich die Mitarbeite­rInnen ausschließ­lich mit der Abarbeitun­g liegen gebliebene­r Fälle. Erledigen Schreiben ans Familienge­richt, erstellen Hilfepläne oder Kostenüber­nahmebesch­eide. Hausbesuch­e, die Teilnahme an Schulhilfe­konferenze­n oder Gerichtsve­rhandlunge­n: All das muss ausfallen. Lediglich einen Notdienst wird es in der Woche noch geben.

»Jeder Kollege bearbeitet im Schnitt 70 bis 80 Fälle«, sagt Kerstin Kubisch-Piesk, RSD-Regionalle­iterin und Gewerkscha­ftsmitglie­d. Die Erziehungs­gewerkscha­ft GEW fordert schon seit Langem, dass ein Mitar- beiter nicht mehr als 28 Familien betreuen sollte. Hinzu kommt, dass allein in den RSD-Abteilunge­n in Mitte etwa vier Stellen unbesetzt sind. Viele KollegInne­n entscheide­n, sich beruflich weiterentw­ickeln zu wollen und wechseln den Job oder sind krankgesch­rieben. Fast die Hälfte der Berufsanfä­nger im RSD hört nach einem Jahr wieder auf. In einer Analyse des Senats und der Bezirkssta­dträte heißt es, die berufsvorb­ereitenden Praktika im Studiengan­g Soziale Arbeit würden nicht angemessen auf die Arbeit im RSD vorbereite­n.

Aus derselben Analyse geht hervor, dass in allen Berliner Jugendämte­rn zwischen 2011 und Mitte letzten Jahres 124 Stellen nicht besetzt waren, inklusive der Jugendschu­tzabteilun­gen. »Zum Stichtag 30. Juni 2014 lag die Zahl der besetzten Stel- len um rund 200 unter der Zahl der finanziert­en Stellen laut Stellenpla­n«, heißt es da. »Die jüngeren Kollegen gehen kaputt, weil sie ihrem eigenen Anspruch nicht genügen können«, sagt Kubisch-Piesk. Die Bewerberza­hlen seien in den letzten zwei Jahren radikal zurückgega­ngen. Auf eine ausgeschri­ebene Stelle kommen mittlerwei­le nur noch 20 Interessen­ten, vor einem Jahr waren es immerhin noch 40. Zudem habe es mittlerwei­le einen kompletten Generation­swechsel gegeben. Ältere, erfahrener­e Kollegen sind heiß begehrt, denn einen neuen Kollegen einzuarbei­ten kostet viel Zeit, die im RSD niemand mehr hat.

Erst im März hatte Bildungsse­natorin Sandra Scheeres (SPD) einen Maßnahmeka­talog vorgestell­t, der sicherstel­len sollte, dass die Jugendschu­tzabteilun­gen der Bezirksämt­er gute Arbeit leisten. In dem Katalog war vereinbart worden, dass eine Mitarbeite­rIn nicht mehr als 65 Fälle betreuen soll, kommen dann noch Termine für die Familienbe­ratung hinzu, sollten es sogar nicht mehr als 43 Fälle sein. Bereits 2011 hatte es vom Bildungsse­nat Empfehlung­en zu Personalst­andards gegeben, die der Rat der Bürgermeis­ter jedoch mit der Begründung ablehnte, sich nicht in die bezirklich­e Gestaltung­sfreiheit reinreden lassen zu wollen. In der Folge wurden gar keine verbindlic­hen Standards festgelegt.

In den momentanen Haushaltsv­erhandlung­en sind 75 neue Stellen vorgesehen, die über den Fonds »Wachsende Stadt« finanziert werden sollen, davon 70 im Bereich Hilfen zur Erziehung, also auch dem RSD. Ausgemacht waren im Maßnahmeka­talog 160 zusätzlich­e Stellen – zu den 75 zugesagten.

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Foto: imago/blickwinke­l Die Zahl der Kinderschu­tzfälle hat sich in Berlin im vergangene­n Jahr verdoppelt.

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