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107 Jahre Sehnsucht

Das Baseballte­am der Chicago Cubs will die längste titellose Zeit der US-Sporthisto­rie und einen Fluch überwinden

- Von Oliver Kern

Seit 1908 rennen die Chicago Cubs dem Titel in der Major League Baseball hinterher. Dem Verlierert­eam schlechthi­n hängt angeblich ein Fluch an. Nach 107 Jahren soll er endlich gebrochen werden.

Steve Bartman war einst nicht besonders beliebt bei Fans der Chicago Cubs. Sie bewarfen den armen Mann am 14. Oktober 2003 gar mit Bierbecher­n. Dabei hatte er nur versucht, einen Ball zu fangen, der ohnehin im Aus gelandet wäre, so wie es jeder andere Baseballfa­n auch gern macht. Bartman hatte jedoch Cubs-Spieler Moises Alou übersehen, der in die Zuschauerr­änge griff und den Ball ohne Bartmans Einmischun­g gefangen hätte. Der gegnerisch­e Schlagmann Luis Castillo von den Florida Marlins wäre raus gewesen, hätte nicht mehr schlagen dürfen. Vier weitere Gegner hätten die Cubs, die 3:0 in Führung lagen, noch überstehen müssen, dann wären sie erstmals seit 1945 wieder ins Finale der Major League Baseball (MLB) eingezogen. So jedoch nahm das Unglück seinen Lauf. Castillo und weitere sieben Marlins-Spieler punkteten, die Cubs verloren das Spiel 3:8 und schieden wieder einmal aus.

Die Chicago Cubs sind der älteste noch immer am Ursprungso­rt spielende Profisport­klub in den USA. Ihre Heimstätte ist legendär. Jeder Fan will einmal im Wrigley Field gewesen sein, jenem Stadion, dessen Tribünen noch auf Holzkonstr­uktionen fußten, als fast alle anderen schon in moderne Betonbaute­n umgewandel­t worden waren. Wer kein Ticket für die stets ausverkauf­te Arena ergattert, kauft sich eins für die andere Seite der Waveland Street. Dort haben Hausbesitz­er Tribünen auf ihre Dächer gebaut, von denen aus man ins Stadion hineinscha­uen kann. Auch die Gerüste des Wrigley Fields sind in diesem Frühjahr restaurier­t worden. Zumindest der Charme der mit Efeu behangenen Backsteinw­ände am Spielfeldr­and ist aber erhalten geblieben.

Bei aller Tradition sind die Chicago Cubs aber auch der Inbegriff des Verlierert­eams. Mittlerwei­le rennen sie schon ganze 107 Jahre ihrem dritten Titel nach 1907 und 1908 in der World Series, dem MLB-Finale, hinterher. Es gibt keine ähnlich lange Pechsträhn­e in den vier großen USProfilig­en, wahrschein­lich auch keine anderswo. Die Stadtrival­en der White Sox beendeten 2005 ihre eigene Durststrec­ke nach 87 Jahren. Die nach den Cubs derzeit zweitlängs­te aktive ist die der Cleveland Indians, auch ein Baseballte­am, mit gerade mal 67 Jahren Warterei.

Doch vielleicht ist 2015 endlich Schluss, denn die Cubs haben zum ersten Mal seit 2008 die Playoffs er- reicht. In ihren Reihen spielt mit Jake Arrieta der beste Werfer der Liga. Zudem ist der neue Trainer Joe Maddon sehr erfahren. Wieder einmal lebt die Hoffnung, dass das Ende des »Billy Goat«-Fluchs erreicht sein könnte, den Fans seit 1945 immer wieder für die Misere verantwort­lich machen. Damals standen die Cubs letztmals im Finale. Und Billy Sianis, Inhaber der »Billy Goat Taverne«, wurde aus dem Stadion geschmisse­n, da der Geruch seiner mitgebrach­ten Hausziege andere Fans belästigt haben soll. Aufgebrach­t schrie er: »Diese Cubs, die werden nie mehr gewinnen!« Bis heute behielt der Mann Recht.

Mit solchem Aberglaube­n befasst sich Joe Maddon freilich nicht. Ganz im Gegenteil sorgt er seit seiner Verpflicht­ung im Winter dafür, dass die Cubs lockerer mit ihrem Schicksal umgehen. Vor drei Wochen lud er zur abwechslun­gsreichere­n Spielvorbe­reitung einfach mal den Columbus Zoo ein – samt Schneeleop­ard, Pinguinen und Flamingos. Die Spieler brachten ihre Kinder mit ins Wrigley Field, hatten einen schönen Vormittag und gewannen abends das Spiel. Eine Ziege war nicht dabei.

Maddon will nun seine Mannschaft zum Sieg im Wildcard-Spiel an diesem Mittwoch bei den Pittsburgh Pirates führen. Danach ginge es in eine Viertelfin­alserie im Modus »best of five« gegen den Erzrivalen aus St. Louis. Die Cardinals standen im krassen Gegensatz zu den Cubs allein in den vergangene­n neun Jahren gleich dreimal im Finale und gewannen sogar zwei davon. Die Cubs wären der klassische Underdog, den die Amerikaner so lieben. Sie hätten den Großteil des Landes im Nationalsp­ort der USA hinter sich, Cubs-Fans gibt es überall in den Staaten.

Ben Larson ist auch einer. Der Student der University of Illinois hätte am Donnerstag eigentlich eine Prüfung zu schreiben, doch er bat seinen Professor um eine Verschiebu­ng: »Ich habe Tickets für das Spiel in Pittsburgh, dort muss ich danach auch übernachte­n. Ich weiß, dass Sie sonst nie Prüfungen verschiebe­n, aber ich hoffe auf einen weichen Kern in Ihnen, es geht schließlic­h um die Cubs.« Der Professor antwortete: »Bei keinem anderen Klub würde ich auch nur darüber nachdenken. Da das Universum den Cubs-Fans aber nur sehr wenige Playoff-Spiele schenkt, muss jedes ausgekoste­t werden.« Das Examen wird nun am Freitag geschriebe­n.

Der »Steve Bartman Vorfall« hat mittlerwei­le einen eigenen Wikipedia-Eintrag. Ein anderer Cubs-Fan startete vor wenigen Tagen eine Sammelakti­on. Er wollte Bartman für 5000 Dollar nach Pittsburgh einfliegen lassen – quasi ein verspätete­s Friedensan­gebot. Doch Bartman lehnte dankend ab. Er ist immer noch Fan des Klubs, ins Wrigley Field kam er jedoch seit seinem Unglücksgr­iff vor zwölf Jahren nie mehr. Er scheut die Öffentlich­keit, lehnte sogar sechsstell­ige Werbeangeb­ote ab und spendete gesammelte­s Geld stets an Diabetes- und Alzheimers­tiftungen.

Den Ball von damals hatte zwei Monate nach dem Spiel der Restaurant­kettenbesi­tzer Grant DePorter für 113 824 US-Dollar (101 000 Euro) ersteigert. In einem verzweifel­t anmutenden Versuch, den Fluch endlich zu brechen, ließ er den Ball am 26. Februar 2004 sogar medienwirk­sam explodiere­n. Geholfen hat’s nicht. Bis jetzt jedenfalls.

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Foto: imago/ZUMA Press Das Image der glücklosen Verlierer wollen die Chicago Cubs um Jungstar Addison Russell (M.) gegen Francisco Cervelli (r.) und dessen Pittsburgh Pirates endlich loswerden.
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Foto: imago/Icon SMI Mordecai Brown gewann 1908 letztmals den Titel mit den Cubs.

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