Die verbogene Raumzeit
Vor 100 Jahren schuf Albert Einstein fast im Alleingang die allgemeine Relativitätstheorie. Erst zuletzt traf er unerwartet auf einen Konkurrenten.
Vor 100 Jahren schuf Albert Einstein die allgemeine Relativitätstheorie und damit ein neues Konzept der Gravitation.
Der 25. November 1915 ist ein magisches Datum für die Physik. An diesem Tag nämlich präsentierte Albert Einstein auf einer Sitzung der Preußischen Akademie der Wissenschaften in Berlin eine kurze Abhandlung mit dem Titel »Die Feldgleichungen der Gravitation«, die heute als eine Art Geburtsurkunde der allgemeinen Relativitätstheorie gilt.
Fast acht Jahre hatte Einstein an dieser Theorie gearbeitet. Einer Theorie, für die es seinerzeit kaum empirische Anhaltspunkte gab. Das war bei der Begründung der speziellen Relativitätstheorie noch ganz anders gewesen. Diese lag zu Beginn des 20. Jahrhunderts sozusagen in der Luft. Insbesondere der niederländische Physiker Hendrik Antoon Lorentz und der französische Mathematiker Henri Poincaré hatten dazu wesentliche Vorarbeiten geleistet. Hiervon ausgehend sowie mit Hilfe allgemeiner, fast philosophisch zu nennender Prinzipien gelang es Einstein 1905, die damalige »Krise der Physik« zu überwinden, wenn auch zum Preis eines gänzlich neuen Verständnisses von Raum und Zeit. Der deutsche Mathematiker Hermann Minkowski, der die spezielle Relativitätstheorie mathematisch vollendete (und dessen Mathematikvorlesungen Einstein als Student in Zürich häufig geschwänzt hatte), erklärte 1908: »Von Stund an sollen Raum für sich und Zeit für sich völlig zu Schatten herabsinken, und nur noch eine Art Union der beiden soll Selbstständigkeit bewahren.«
Während die meisten Physiker in der Folge damit beschäftigt waren, den mit der speziellen Relativitätstheorie erzielten Erkenntnisfortschritt zu realisieren, hatte Einstein bereits Größeres im Sinn. Ihm missfiel, dass seine Theorie von 1905 nur für Inertialsysteme gilt, für Systeme also, in denen sich kräftefreie Körper geradlinig und gleichförmig bewegen. Außerdem sagt sie nichts über die Gravitation. Was niemanden außer Einstein sonderlich störte. Immerhin gab es das Newtonsche Gravitationsgesetz, das eine präzise Beschreibung der astronomischen Phänomene lieferte. Mit Ausnahme der sogenannten Periheldrehung des Merkurs. Danach verschiebt sich der sonnennächste Punkt auf der Ellipsenbahn des Planeten pro Jahrhundert um rund 574 Bogensekunden. Die Newtonsche Theorie ergibt dagegen einen Wert, der davon um 43 Bogensekunden abweicht. Das ist nicht sehr viel, so dass manche Physiker hofften, diese Differenz durch eine Modifikation des Newtonschen Gravitationsgesetzes beseitigen zu können.
Einstein folgte einer anderen Spur, auf die er bereits im Jahr 1907 geführt worden war: »Ich saß auf meinem Sessel im Berner Patentamt, als mir plötzlich folgender Gedanke kam: Wenn sich eine Person im freien Fall befindet, dann spürt sie ihr eigenes Gewicht nicht. Ich war verblüfft. Dieser einfache Gedanke machte auf mich einen tiefen Eindruck. Er trieb mich in Richtung einer Theorie der Gravitation.«
Kurz darauf formulierte Einstein das sogenannte Äquivalenzprinzip, demzufolge Trägheit und Schwere wesensgleich sind. Das heißt: In einem abgeschlossenen Labor, das gleichförmig und geradlinig beschleunigt wird, gelten dieselben physikalischen Gesetze wie in einem Labor, das in einem homogenen Schwerefeld entsprechender Stärke ruht. Folglich kann ein Beobachter nicht zwischen der Trägheitskraft in einem beschleunigten Labor und der Schwerkraft in einem ruhenden Labor unterscheiden. Damit hatte Einstein eine Möglichkeit gefunden, beide »Schwächen« der speziellen Relativitätstheorie zu beheben. In seiner neuen Theorie betrachtete er beschleunigte Bezugssysteme und ruhende bzw. gleichförmig bewegte Bezugssysteme als gleichberechtigt. Denn man kann darin ein beschleunigtes Bezugssystem insofern als ruhend ansehen, als man annimmt, dass in ihm ein bestimmtes Gravitationsfeld wirkt. Diese Verallgemeinerung des speziellen Relativitätsprinzips war zugleich der Grund, warum Einstein nun von der allgemeinen Relativitätstheorie sprach.
Ihrem Inhalt nach ist diese jedoch vor allem eine Theorie der Schwerkraft, bei deren Ausarbeitung Einstein große mathematische Hürden überwinden und so manchen Fehlschlag verkraften musste. 1912 schrieb er an seinen Kollegen Arnold Sommerfeld: »Aber das eine ist sicher, dass ich mich im Leben noch nicht annähernd so geplagt habe.« Dagegen sei die ursprüngliche Relativitätstheorie »eine Kinderei« gewesen.
Die Physikhistoriker Michel Janssen und Jürgen Renn haben Einsteins Erkenntniswege zwischen 1911 und 1915 im Oktoberheft der Zeitschrift »Spektrum der Wissenschaft« detailliert nachgezeichnet. Dort heißt es: »Zu einer vollständigen Feldtheorie der Gravitation gehörte die Aufstellung zweier fundamentaler Gleichungen, wie Einstein aus der Theorie des elektromagnetischen Felds wusste: einer Bewegungsgleichung, welche die Bewegung im Feld beschreibt, und einer Feldgleichung, die bestimmt, wie das Feld durch seine Quellen erzeugt wird.« Bei der Suche nach diesen Gleichungen bat Einstein seinen einstigen Studienfreund, den Mathematiker Marcel Grossmann, um Hilfe. In einem in der Physikgeschichte einmaligen Ringen tasteten sich beide Schritt für Schritt an die Lösung des Gravitationsproblems heran.
Im Sommer 1915 referierte Einstein über seine bereits erzielten Er- gebnisse an der Universität Göttingen. Eingeladen hatte ihn der berühmte Mathematiker David Hilbert, der die Vorträge zum Anlass nahm, um sich selbst mit der Frage der Gravitation zu beschäftigen. Einstein war ungehalten, dass Hilbert in seinem Revier wildere, wie er Schweizer Freunden mitteilte. Am 20. November 1915 reichte Hilbert seine mathematische Lösung des Gravitationsproblems bei der Göttinger Akademie der Wissenschaften ein. Erst fünf Tage später präsentierte Einstein die korrekten Feldgleichungen der Gravitation in Berlin. War Hilbert Einstein also in letzter Minute zuvor gekommen? Janssen und Renn bestreiten dies und verweisen auf die überlieferten Druckfahnen von Hilberts Artikel, die auf den 6. Dezember 1915 datiert sind. Darin habe Hilbert mit seiner Theorie konzeptionell noch immer hinter Einstein zurückgelegen. Und noch etwas kommt hinzu: Einsteins Beitrag wurde bereits im Dezember 1915 veröffentlicht. Der von Hilbert erschien erst im März 1916 und enthielt nachweislich einige Veränderungen.
Zu einem Prioritätsstreit zwischen den Giganten kam es nicht. Hilbert erkannte vorbehaltlos an, dass die allgemeine Relativitätstheorie als Idee und Konzept das Werk Einsteins war. Und dennoch: Dass auch Hilbert um die Lösung des Gravitationsproblems gerungen und damit Einstein zeitweilig unter Druck gesetzt hatte, trug vermutlich nicht unwesentlich dazu bei, dass am 25. No- vember 1915 eine Sternstunde der Physik schlug.
Anders als in der Newtonschen Mechanik sind Raum und Zeit in der allgemeinen Relativitätstheorie keine feste Bühne für die physikalischen Prozesse, sondern hängen von der Verteilung der Massen ab. Der USPhysiker John A. Wheeler illustrierte diesen Zusammenhang einmal so: »Die Raumzeit ergreift die Masse und sagt ihr, wie sie sich bewegen soll, und die Masse ergreift die Raumzeit und sagt ihr, wie sie sich krümmen soll.« So gesehen ist die Gravitation keine »gewöhnliche« Kraft; sie ist vielmehr mit der Geometrie bzw. Krümmung der Raumzeit identisch.
In unserer Alltagswelt sind die Massen natürlich viel zu klein, um zwischen den Theorien von Newton und Einstein unterscheiden zu können. Erst bei sehr großen Massen sagt die allgemeine Relativitätstheorie drei Effekte voraus, anhand derer sie zugleich empirisch bestätigt wurde. So konnte Einstein, anders als Newton, die Periheldrehung des Planeten Merkur vollständig erklären. Als zweiter Effekt sei hier die gravitative Rotverschiebung genannt. Sie besagt, dass die Spektrallinien des Lichts, das von einem Stern ausgestrahlt wird, gegenüber dem auf der Erde erzeugten Licht derselben Art nach der langwelligen, also der roten Seite hin verschoben sind. Der dritte Effekt, die Ablenkung der Lichtstrahlen im Schwerefeld der Sonne, sollte für Einstein besondere Bedeutung erlangen.
Um eine solche Lichtablenkung nachweisen zu können, bedarf es einer totalen Sonnenfinsternis. Die Sternörter in der Nähe der Sonne müssen dabei zweimal fotografiert werden, einmal während und einmal vor bzw. nach der Finsternis. Durch einen Vergleich beider Fotoplatten kann man anschließend feststellen, ob sich die gemessenen Sternörter im Schwerefeld der Sonne tatsächlich verschoben haben.
Bereits 1911 hatte Einstein den Winkel der Lichtablenkung berechnet. Und noch vor der Fertigstellung der allgemeinen Relativitätstheorie reiste der deutsche Astronom Erwin Finlay Freundlich auf die Halbinsel Krim, um die (damals noch nicht ganz korrekte) Voraussage Einsteins während der totalen Sonnenfinsternis vom 21. August 1914 zu bestätigen. Doch der Ausbruch des Ersten Weltkriegs verhinderte das Unternehmen. Freundlich wurde in Russland interniert, aber bereits nach wenigen Wochen gegen einige in Gefangenschaft geratene russische Offiziere ausgetauscht. Danach vergingen fast fünf Jahre, ehe zwei britische Forschergruppen unter Leitung von Arthur Stanley Eddington einen neuerlichen Versuch wagten. Eine Gruppe fuhr nach Sobral in Brasilien, die andere auf die Vulkaninsel Principe im Golf von Guinea. Beide Expeditionen verfolgten das Ziel, während der totalen Sonnenfinsternis vom 29. Mai 1919 Einsteins Vorhersage zu bestätigen.
Bis Eddington und seine Mitarbeiter die verschiedenen Sternpositionen ausgemessen hatten, vergingen einige Monate. Und auch die ermittelten Werte für die Lichtablenkung fielen etwas größer bzw. kleiner aus als vorhergesagt. Dennoch wurden sie als Bestätigung der allgemeinen Relativitätstheorie aufgefasst. Zu Recht, wie man rückblickend feststellen muss, denn neuere Messungen haben den von Einstein vorhergesagten Wert von 1,75 Bogensekunden mit hoher Präzision bestätigt.
Am 19. November 1919 erschien die Londoner »Times« mit der Schlagzeile: »Wissenschaftliche Revolution. Neue Theorie des Universums. Newtons Vorstellung gestürzt.« Auch in den USA und in Deutschland wurde um Einstein alsbald ein Rummel entfacht, wie es ihn bis dahin in der Wissenschaftsgeschichte noch nicht gegeben hatte. Journalisten bestürmten den eher schüchternen Physiker und einer fragte, was wohl gewesen wäre, wenn Eddington die vorhergesagte Lichtablenkung nicht nachgewiesen hätte. »Da könnt’ mir halt der liebe Gott leidtun«, antwortete Einstein schmunzelnd: »Die Theorie stimmt doch!«
»Von Stund an sollen Raum für sich und Zeit für sich völlig zu Schatten herabsinken, und nur noch eine Art Union der beiden soll Selbstständigkeit bewahren.« Hermann Minkowski, Mathematiker, im Jahre 1908