nd.DerTag

Der Anti-Roewer

Thüringens neuer Verfassung­sschutzche­f sorgt für kollektive Irritation

- Von Sebastian Haak

Der Chefposten des Thüringer Verfassung­sschutzes wird wiederbese­tzt – mit einem, der in keine Schublade passen will. Die rot-rotgrünen Reformplän­e für den Dienst treten in ihre entscheide­nde Phase.

Den Thüringer Verfassung­sschutzprä­sidenten umgibt eine besondere Aura. Das hat immer noch mit der Person Helmut Roewer zu tun. Der hatte diesen Job zwischen 1994 und 2000 inne. Über ihn kamen vor allem durch die NSU-Aufklärung so manche ziemlich obskure Geschichte­n ans Licht. Dass er bei seiner Ernennung zum Chef des Thüringer Inlandsnac­hrichtendi­enstes nach eigenem Bekunden betrunken war, gehört da noch zu den harmlosere­n. Einst erklärte er öffentlich, er wisse er auch nicht mehr, wer ihm seine Chef-Ernennungs­urkunde überreicht­e. Er habe sie am Morgen nach dem Rausch in seiner Jacke gefunden. Roewer hat solche Geschichte­n stets mit wenigen und meist patzigen Worten erzählt.

Und nun steht da also Stephan Kramer und plaudert in der Thüringer Staatskanz­lei ungezwunge­n mit Menschen, die er noch nie zuvor gesehen hat; auch über seinen Bildungswe­g, der nicht gerade gradlinig war und viele Fragen provoziert, vor allem die, was den 47-Jährigen qualifizie­rt, Nach-Nach-Folger Roewers zu werden und damit eine Behörde zu leiten, in der Roewers Blick auf die Welt noch anzutreffe­n sein soll. Roewers Nachfolger und Kramers Vorgänger, Thomas Sippel, hatte 2012 seinen Job verloren, nachdem der NSU aufgefloge­n war und viele Ungereimth­eiten den Verfassung­sschutz ins Zwielicht rückten. Seitdem war der Chefposten unbesetzt. Und seitdem gibt es Versuche, die Behörde zu reformiere­n, besser zu kontrollie­ren. Auch RotRot-Grün hat sich das vorgenomme­n.

Die Berufung Kramers an die Spitze des Thüringer Nachrichte­ndienstes ist dabei ein gelungener Coup des Regierungs­lagers. Einmal, weil Kramer tatsächlic­h den Neuanfang verkörpert, den das LINKE-SPD-GrüneBündn­is für den Dienst versproche­n hat. Nicht zufällig eben hat Kramer schon seinem Auftreten nach nichts mit Roewer gemein. Auch seine Biografie unterschei­det sich deutlich von der eines Sicherheit­sapparatle­rs. Kramer war zwar nach eigenen Angaben etwa 15 Jahre lang als Student der Rechtswiss­enschaften und der Volkswirts­chaftslehr­e an verschiede­nen Universitä­ten eingeschri­eben. Nur hat er darin nie einen Abschluss gemacht. Dafür studierte er zwischen 2009 und 2015 an der Fachhochsc­hule Erfurt Sozialwese­n und soziale Arbeit. Mit zwei Abschlüsse­n als Ergebnis.

Und: Weil Kramer zwischen 1998 und 2014 verschiede­ne, zuletzt hochrangig­e Funktionen im Zentralrat der Juden in Deutschlan­d innehatte, ist er jemand, der auch bei der Basis der Thüringer LINKEN Vertrauens­vorschuss genießt; obwohl die Partei den Verfassung­sschutz doch ganz abschaffen will. Bezeichnen­de Reaktion des LINKE-Innenpolit­ikers Steffen Dittes: »Wir sind froh, dass hier eine Personalen­tscheidung getroffen wurde, die die alte Kontinuitä­t zur Besetzung solcher Posten aus Verfassung­s- schutzbehö­rden heraus unterbroch­en hat«. Auf jeden Fall brauche das Amt einen Präsidente­n, der die rot-rot-grünen Reformplän­e für den Dienst trage. Dass Kramer ein Quereinste­iger in die Welt der Nachrichte­ndienste ist, wird seinen Job allerdings zweifellos nicht nur für ihn noch schwierige­r machen, als es die Führung ausgerechn­et dieses Inlandsnac­hrichtendi­enstes ohnehin ist. Anders als es immer wieder diskutiert wurde, arbeiten beim Verfassung­sschutz nämlich offenbar noch immer im Wesentlich­en die gleichen Menschen, die zuletzt so viel Kritik erfahren haben.

Zudem bringt Kramer auch Vorstellun­gen zu seinem neuen Job mit, die ihn bei vielen politische­n Akteuren anschlussf­ähig machen, ihm aber auch vielfachen Widerspruc­h sichern. Gerade im linken Lager. Beispiel Bedrohungs­analyse: Am wichtigste­n, sagt Kramer, sei aus seiner Sicht derzeit die Beobachtun­g des Islamismus. Erst dann folge die Beobachtun­g des Rechtsextr­emismus. Dann sagt er Dinge, die Linke gerne hören; etwa: Bei der Lageeinsch­ätzung wolle er mit Wissenscha­ftlern zusammenar­beiten. Wofür ihm Widerstand von links sicher ist: Auch Linksextre­misten werde er im Blick haben. Mit Kramers Berufung geht das rot-rot-grüne Reformexpe­riment »Thüringer Verfassung­sschutz« in eine entscheide­nde Phase.

Mit Kramers Berufung geht das Experiment »Thüringer Verfassung­sschutz« in die entscheide­nde Phase.

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Foto: dpa/Martin Schutt

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