Das Menetekel Saint-Denis
Djamel Guessoum über die islamistische Radikalisierung junger Muslime in Frankreich
Wo sehen die Ursachen für die jüngsten Terroranschläge in Frankreich?
Der seit Jahren zu beobachtende Prozess der islamistischen Radikalisierung unter jugendlichen Muslimen hat sich durch das militärische Engagement Frankreichs gegen den Islamischen Staat beschleunigt. Andererseits wuchsen unter der großen Mehrheit der Franzosen das Misstrauen und die Ablehnung gegenüber dem Islam und den Muslimen im eigenen Land.
Vor allem von den jugendlichen Muslimen in den Vorstädten wird das als Missachtung empfunden und löst eine Gegenreaktion aus, die nicht selten gewalttätig ist. Da sie sich chancenlos und ausgegrenzt fühlen, wenden sie sich mehr und mehr Leuten ihrer Herkunft zu, die ihnen Hilfe anbieten – den Islamisten. Sie lassen sich indoktrinieren und radikalisieren. Durch Misstrauen und Missachtung liefert man diesen Jugendlichen das Motiv, nämlich sich als Opfer eines Systems zu fühlen, gegen das man sich dann legitimerweise wehren darf, bis hin zu Attentaten.
Welche Dimension hat diese Radikalisierung erreicht?
Man darf sich da nicht täuschen lassen. Durch die Medienberichterstattung über die Anschläge und durch die Zahl der Terroropfer entsteht der Eindruck einer Untergrundarmee. Doch das muss man relativieren. Man sollte sie weder ignorieren noch überbewerten. In Wirklichkeit handelt es sich um recht kleine Gruppen, die aber untereinander und mit dem Islamischen Staat vernetzt sind, die schwer bewaffnet und vor allem zum Äußersten entschlossen sind, bis hin zu Selbstmordattentaten. Ein Mann kann leicht 100 Menschen töten. Das macht sie so gefährlich.
Wie verläuft der Prozess der Radikalisierung praktisch?
Das beginnt meist mit dem vorzeitigen Abbruch der Schule, die diese Jugendlichen als überflüssig ansehen, weil sie ihnen sowieso keine Perspektive im Leben eröffnet und weil sie ihnen als unerträgliche Einschränkung ihrer Freiheit erscheint. Die Eltern können hier selten etwas ausrichten, zumal wenn der Vater arbeitslos ist und daher von seinen Kindern nicht respektiert wird. Diese Jugendlichen haben nun viel Zeit, aber kein Geld, nicht einmal für die Fahrkarte von Saint-Denis bis ins zehn Minuten entfernte Paris. Also suchen sie sich selbst eine Geldquelle, und daran besteht hier kein Mangel. Die Dro- gendealer brauchen ständig neue Kinder und Jugendliche als Späher gegen die Polizei. Damit können sie pro Tag bis zu 100 Euro verdienen und sogar ihre Eltern finanziell unterstützen – was zu einer Umkehrung der Rollen in den Familien führt.
Es folgt der schrittweise Aufstieg innerhalb des Drogendealernetzes, aber früher oder später dann auch die Verhaftung, Verurteilung und Gefängnishaft. Dort werden Freundschaften geschlossen und Netzwerke geknüpft, die wichtig sind für die Zeit danach. Das machen sich die Dschihadisten zunutze, um Anhänger zu rekrutieren. Sie bieten Hilfe an, nicht zuletzt beim Ausstieg aus der Kriminalität und aus dem ewigen Kreislauf, immer wieder im Gefängnis zu landen. Der präsentierte Ausweg ist die Religion, aber so wie sie sie auslegen beziehungsweise als Rechtfertigung für den Terror missbrauchen.
Warum ist Saint-Denis zu einem traurigen Muster für diese Entwicklung geworden?
Das Departement Seine-Saint-Denis ist ein fruchtbarer Boden für Kriminalität, islamistische Radikalisierung und Terrorismus. Hier hat man die höchste Kriminalitätsrate Frankreichs. Der Staat mit seinen Institutionen hat sich weitgehend zurückgezogen, andere nehmen den Platz ein, bieten soziale Hilfe und Beistand, werden so einflussreicher.
Vor allem fehlt die soziale Durchmischung der Bevölkerung. Durch die Konzentration von Sozialwohnungen in diesem Departement entstanden riesige Schlafstädte für billige Arbeitskräfte für Paris. Die dort lebenden, vergleichsweise armen Familien sind Afrikaner und Araber; weiße Franzosen sind heute in Saint-Denis die Minderheit. Doch Armut, Abwesenheit des Staates und Kriminalität bilden ein explosives Gemisch.
Ralf Klingsieck.
Wie könnten Ihrer Meinung nach Lösungen aussehen?
Lösungen bieten jene, die nicht die Macht haben. Das sind in erster Linie Vereinigungen wie meine, die wissen, wo die Probleme der Jugendlichen liegen und wie sie zu erreichen sind. Wir haben beispielsweise ein Studio eingerichtet und produzieren für ein Lokalradio Sendungen mit Rap-Sängern aus den Vororten und mit Diskussionsrunden über aktuelle Themen mit und für die Jugendlichen hier.
Aber vor allem muss es darum gehen, den Jugendlichen die Chance auf Arbeit zu eröffnen, denn der Hauptgrund für die Radikalisierung ist die Arbeitslosigkeit, die in den Vorstädten weit mehr als die Hälfte aller Jugendlichen betrifft. Das Schwergewicht muss auf drei Dinge gelegt werden: Schulbildung, Berufsausbildung, geeignete Arbeitsplätze. Nur so kann man den Jugendlichen helfen, die noch nicht radikalisiert sind. Wer schon die Ideologie des Terrors in sich aufgenommen, wer in Syrien für den Islamischen Staat gekämpft hat und jetzt nach Frankreich zurückkommt, für den gibt es nur noch die Mittel der Justiz. Handeln mit Aussicht auf Erfolg kann man nur weit im Voraus.
Wie kann man dem Abdriften von Kindern und Jugendlichen in die Kriminalität und in die islamistische Radikalisierung vorbeugen?
Damit muss man sehr früh anfangen, möglichst mit sechs, sieben Jahren am Anfang der Grundschule. Kinder, die in der Schule anerkannt und gefördert werden, die organisiert Sport treiben oder ans Lesen und andere kulturelle Betätigungen herangeführt werden, haben Erfolge und damit auch Hoffnungen für später. Sie sind weniger anfällig für Kriminalität und islamistische Radikalisierung. Gebraucht werden also globale Lösungen, doch oft fehlt es am nötigen Geld und noch häufiger am politischen Willen.
Nach den wochenlangen gewalttätigen Unruhen von Jugendlichen in Frankreichs Vorstädten 2005 hat die Regierung Geld und Maßnahmen für eine dortige Wende angekündigt. Seitdem sind Milliarden in diese Viertel geflossen. Hat das nichts bewirkt?
Mit diesem Geld wurden Treppenhäuser renoviert und Fahrstühle repariert, verkommene Riesenwohnblocks wurden abgerissen und statt dessen kleine Häuser mit menschlicheren Dimensionen gebaut. Es wurden Spielplätze, Sportanlagen und Grünflächen angelegt. All das ist gut und nützlich, doch es geht am Kern des Problems vorbei, und daran hat sich nichts geändert. Die Jugendlichen haben nach wie vor keine echte Chance und damit Hoffnung für die Zukunft. Da ihnen die Institutionen des französische Staates das nicht geben können oder wollen, nehmen sie die Angebote der Kriminellen oder der radikalen Islamisten an. Hauptsache, sie bekommen einen Hoffnungsschimmer für ihr Leben.
Wie sehen Sie angesichts dieser Lage die Zukunft?
Ich bin eher pessimistisch, aber davon darf man sich nicht unterkriegen lassen. Eins ist klar: Die jüngsten Terroranschläge waren erst ein Anfang. Frankreich wird lange Jahre mit dieser Gefahr leben müssen. Das ist der Preis dafür, dass die Politiker der vergangenen rechten wie linken Regierungen die Augen vor den Problemen verschlossen und durchgreifende Maßnahmen verschleppt haben.
Wie sich das Kräfteverhältnis zwischen dem Staat und den radikalen Islamisten verschoben hat, kann man hier in Saint-Denis schon am Straßenbild ablesen. Vor 20 Jahren waren hier Kopftücher selten und Ganzkörperschleier gab es gar nicht, während sie heute immer mehr zunehmen. Das ist Ausdruck einer geistigen Entwicklung unter den Muslimen und ihrer Einstellung zur französischen Gesellschaft, ein instinktiver oder bewusster Affront gegen den laizistischen Charakter der Republik. Das ist die Antwort darauf, dass seit mehr als zwei Jahrzehnten alle französischen Regierungen die Augen vor den Realitäten und vor dieser Entwicklung verschlossen und das notwendige Gegensteuern versäumt haben. Und ich fürchte, dass sich dieser Zustand auch nicht durch die jüngsten Attentate ändert.