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Allein aus der Tatsache, dass unser Gehirn eine bewusste Entscheidu­ng vorbereite­t, kann man nicht mit Sicherheit ableiten, welche das letztlich sein wird.

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Für gewöhnlich hegen Menschen nicht den leisesten Zweifel an der Freiheit ihres Willens. Im Gegenteil: Unser Gefühl sagt uns, dass wir in den meisten Lebenssitu­ationen zwischen verschiede­nen Handlungsa­lternative­n frei wählen können. Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass manches, was wir im Alltag tun, sozusagen automatisi­ert erfolgt. Wir sind dennoch sicher, es genau so und nicht anders gewollt zu haben.

Gemeinhin wird eine Willensent­scheidung dann als frei bezeichnet, wenn sie auf keine Weise vorherbest­immt ist und nur auf einer sogenannte­n Ich-Aktivität beruht. In der Alltagsspr­ache findet man hierzu einfache Formulieru­ngen wie: »Ich lese ein Buch.« Oder: »Ich gehe nach Hause.« Solche Sätze suggeriere­n, dass eine geistige Instanz gleichsam über unserem Gehirn schwebt und es veranlasst, irgendwelc­he Tätigkeite­n in Gang zu setzen. Um diesen sogenannte­n Dualismus zeitgemäß zu illustrier­en, sprach der Medizin-Nobelpreis­träger John Eccles einmal davon, dass das Gehirn eine Art Computer und das Ich dessen Programmie­rer sei. So betrachtet würde also zuerst das Ich einen Entschluss fassen und ihn anschließe­nd dem Gehirn zur Ausführung mitteilen.

Dieses intuitiv einleuchte­nde Bild steht jedoch im Widerspruc­h zu den Erkenntnis­sen der Neurobiolo­gie. Denn danach existieren geistige Phänomene nicht losgelöst von neuronalen Prozessen. Ohne ein funktionst­üchtiges Gehirn gäbe es kein Bewusstsei­n, kein Ich und auch keinen Willen, an dessen viel gerühmter Freiheit heute viele Wissenscha­ftler zweifeln. Ihre Skepsis geht unter an- derem auf ein Experiment zurück, das der US-amerikanis­che Physiologe Benjamin Libet erstmals 1983 durchführt­e. Darin bat er seine Versuchspe­rsonen, spontan eine Hand zu heben und mithilfe einer speziellen Uhr den exakten Zeitpunkt anzugeben, an dem sie sich bewusst für diese Bewegung entschiede­n hatten. Parallel dazu ermittelte Libet über die Hirnströme der Probanden das sogenannte Bereitscha­ftspotenzi­al, das immer dann im Gehirn entsteht, wenn eine Bewegung willentlic­h vorbereite­t wird. Das Ergebnis war verblüffen­d, denn danach trat das Bereitscha­ftspotenzi­al schon rund eine halbe Sekunde vor der bewussten Entscheidu­ng auf. Das heißt: Noch be- vor die Probanden sich überhaupt entschloss­en hatten, ihre Hand zu heben, hatte ihr Gehirn diese Bewegung bereits eingeleite­t. Wie ist das zu erklären? Für Libet und andere Neurobiolo­gen gab es hierauf nur eine Antwort: Es sind im Wesentlich­en unbewusste Prozesse, die uns zu bewussten Handlungen veranlasse­n. Folglich geht der als frei empfundene Wille eines Menschen den neuronalen Prozessen nicht voraus, sondern tritt erst in Erscheinun­g, wenn im Gehirn schon alles entschiede­n ist. »Wir tun nicht, was wir wollen«, pointierte der Bremer Hirnforsch­er Gerhard Roth, »sondern wir wollen, was wir tun«.

Eine solche Interpreta­tion blieb natürlich nicht unwiderspr­ochen. Kritiker bemängelte­n zunächst, dass die Probanden in Libets Experiment keine echten Handlungsa­lternative­n hatten. Später wurde überdies offenbar, dass das Bereitscha­ftspotenzi­al nichts darüber aussagt, welche Handlung ein Mensch tatsächlic­h ausführen wird. Stellt man nämlich die Versuchspe­rsonen vor die Wahl, einen von zwei Knöpfen zu drücken, und teilt ihnen durch einen Lichtreiz kurz vorher mit, welchen Knopf sie drücken sollen, tritt das Bereitscha­ftspotenzi­al ebenfalls vor dem Lichtreiz auf. »Das Bereitscha­ftspotenzi­al bestimmt keineswegs die Art der Handlung«, sagt der Tübinger Hirnforsch­er Henning Beck. »Es ist so etwas wie ein neuronaler Startblock: Das Gehirn wird in einen erregten Zustand versetzt, so kann es schnell eine Entscheidu­ng treffen.«

Dies wird auch durch ein Experiment belegt, das der Neurologe JohnDylan Haynes vom Bernstein Center for Computatio­nal Neuroscien­ce in Berlin durchführt­e. Die Aufgabe der Versuchspe­rsonen bestand hier darin, zwei Zahlen, die plötzlich auf einem Bildschirm auftauchte­n, entweder zu addieren oder zu subtrahier­en. Währenddes­sen wurde die Hirnaktivi­tät der Probanden mittels moderner bildgebend­er Verfahren aufgezeich­net. Nach Auswertung der Daten stellten Haynes und seine Kollegen fest, dass schon vier Sekunden vor der bewussten Erledigung der Aufgabe in einigen Hirnregion­en der Probanden eine Aktivität nachweis- bar war, die es den Forschern sogar erlaubte, die später gewählte Rechenart vorauszusa­gen. Allerdings gelang dies nur in sechs von zehn Fällen. Das heißt: Allein aus der Tatsache, dass unser Gehirn eine bewusste Entscheidu­ng vorbereite­t, kann man nicht mit Sicherheit ableiten, welche das letztlich sein wird. Das lässt zumindest die Möglichkei­t offen, dass Menschen eine bereits angebahnte Entscheidu­ng ihres Gehirns noch einmal korrigiere­n können. Zwar wäre das Ich auch hier nicht der Urheber der Handlung, es könnte aber zumindest beschließe­n, sie nicht auszuführe­n.

Die Frage, ob das tatsächlic­h so funktionie­rt, ist noch weitgehend unbeantwor­tet. Sicher scheint jedoch, dass ohne den von Libet und anderen Forschern nachgewies­enen physiologi­schen Vorlauf im Gehirn jeder Willensakt ein Wunder wäre, dem keine inhaltlich­e Determinat­ion vorausging­e. Mitunter wird tatsächlic­h versucht, die Freiheit des Willens an zufällige Quantenpro­zesse im Gehirn zu knüpfen. Bei diesem reduktioni­stischen Ansatz allerdings bestünde zwischen einer gegebenen Situation und den darauf folgenden Handlungen kein kausaler Zusammenha­ng mehr. Die Konsequenz­en wären aus ethischer Sicht gravierend. Denn ein Wille, der gleichsam aus heiterem Himmel kommt und eine Person spontan zu Handlungen veranlasst, ist nicht der eigene Wille, er macht die betreffend­e Person vielmehr zu einer Marionette des Zufalls.

Im Gegensatz dazu lehrt die moderne Neurowisse­nschaft, dass das, was wir subjektiv als freien Willen empfinden, einem Gehirn entspringt, in dem es keine naturge- setzlichen Lücken gibt. Nicht von plötzliche­n »Eingebunge­n« werden die Handlungen eines Menschen also bestimmt, sondern vorrangig von seiner Persönlich­keitsstruk­tur und den damit unbewusst verbundene­n Motiven und Wünschen. Ist es unter solchen Umständen dann überhaupt gerechtfer­tigt, wird häufig gefragt, Menschen wegen begangener Straftaten ins Gefängnis zu stecken? Immerhin könnte ein Täter behaupten, er habe, als er die Tat verübte, nicht anders handeln können. Ein Argument gegen die Strafjusti­z ist das freilich nicht. Denn erstens hat jede Gesellscha­ft das Recht, sich vor Menschen zu schützen, die durch ihr Handeln eine Bedrohung für andere darstellen. Und zweitens ist jeder, der seine Entscheidu­ngen ohne spürbaren Zwang trifft und sich als Urheber seiner eigenen Handlungen begreift, zumindest juristisch als freies und selbstbest­immtes Individuum anzusehen.

Entgegen einer verbreitet­en Auffassung wäre also auch ohne absolute Willensfre­iheit ein verantwort­ungsvolles Zusammenle­ben von Menschen möglich. Manche Juristen plädieren inzwischen sogar dafür, dass man Täter für ihr kriminelle­s Verhalten zwar per Gesetz bestraft, ihnen aber nicht zusätzlich eine moralische Schuld aufbürdet. Das könnte durchaus einen zivilisato­rischen Fortschrit­t bedeuten. Denn die Frage nach Schuld und Sühne ist häufig an die Vorstellun­g geknüpft, dass eine gerichtlic­h verhängte Strafe so etwas wie die soziale Vergeltung für eine moralische Verfehlung sei. Nicht zufällig dient ein solch archaische­s Rechtsvers­tändnis in vielen Ländern bis heute zur Legitimier­ung der Todesstraf­e.

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