nd.DerTag

Nur der Mond weiß mehr

Javier Marías zieht in ein raffiniert­es Geflecht aus Wahrheit und Täuschung

- Sabine Neubert

»Man löscht nicht nach Belieben die Erinnerung aus«, und »Wir wandern von Täuschung zu Täuschung.« Das sind zwei dem Roman entnommene Sätze, die schon ein wenig das Komplexe des Erzählten ausmachen. Lesen wir sie (wie hier) zusammen, dann ist unsere und jedes Menschen Vergangenh­eit ja nichts anderes als erinnerte Täuschung.

Gehen wir in dem uns abgeforder­ten Gedankensp­iel noch einen Schritt weiter, dann stellt sich im Zusammenha­ng mit dem Buchtitel die Frage: Wie und wann fängt das Schlimme an – mit einem Geschehen oder mit einer Täuschung, mit der Erinnerung daran oder mit dem Verdrängen? Einfacher gefragt, was ist folgenreic­her: Vergessen oder Nicht-Vergessen-Können?

Damit sind wir sogar schon unbemerkt dem großen Geheimnis des Romans näher, als wir glauben, unbemerkt allerdings, denn Javier Marías bleibt uns lange die Antwort schuldig, spannt uns, die Leser, mit dieser komplizier­ten Liebes- und Leidensges­chichte aus Spanien in der Nach-Franco-Ära bis zuletzt auf die Folter. Seelische Abgründe sind nicht erfassbar, auch das suggeriert der Roman, und so weiß von ihnen eigentlich nur ein einziger, das ist der Mond, »der kalte Nachtwächt­er«, der, wie nebenbei, als schöne Metapher durch den Roman geistert.

Aber schauen wir auf die Romanhandl­ung, die auch ohne Blicke hinter die psychische­n Kulissen vital und impulsiv genug ist! Der Ich-Erzähler Juan de Vere erinnert sich an lange zurücklieg­ende, turbulente Ereignisse seines Lebens. Für den dreiundzwa­nzigjährig­en, filmbegeis­terten Diplomaten­sohn ging damals ein Traum in Erfüllung, als ihn der bekannte Filmregiss­eur Eduardo Muriel zu seinem Assistente­n machte. Es dauerte nicht lange, da wird er zu einem wichtigen Gesprächsp­artner und beinahe zu einem Vertrauten Eduardos. Der Regisseur, auf dem Teppich seines Arbeitszim­mers liegend und mit schwarzer »klassische­r Augenklapp­e« (ein Fritz Lang oder ein Polyphem?), wandelt Gespräche mit dem Jüngeren in lange Monologe um. Er nennt ihn fast zärtlich »Junger de Vere« oder »Junger Vera« und nimmt ihn in den Kreis seiner Familie auf.

Bald bezieht der junge Mann ein kleines Zimmer im großzügige­n Haus des Regisseurs. Juan hat allen Grund, glücklich und zufrieden zu sein, aber in seine Freude fallen Wermutstro­pfen, weil er hautnah Zeuge der unglücklic­hen Ehe Eduardo Muriels und Beatriz Nogueras wird. Dabei ist ihm Eduardos schroffes, verletzend­es Verhalten sei- ner Frau gegenüber vollkommen unverständ­lich. Beide führen ein selbstbest­immtes Leben ohne materielle Einschränk­ungen. Und dann wird alles zunehmend dramatisch, Juan gerät ungewollt in verschiede­ne Rollen, er wird zum Voyeur, zum Detektiv und schließlic­h zum Geliebten von Beatriz.

Javier Marías hat das Geschehen in die politische­n und gesellscha­ftlichen Ereignisse um 1980 eingebette­t, der ersten Zeit nach der Franco-Diktatur, »Jahre der Unbekümmer­theit«, wie es einmal heißt, geprägt von Lebenslüge­n und überspannt­em Hunger nach individuel­ler Freiheit und Sexualität. Diesen Zeitgeist verkörpert der Arzt und Profiteur van Vechten. Eine Art Gegenpol oder Gegenspiel­er zu ihm ist der Professor Francisco Rico, ein großer Shakespear­eKenner und damit ein Wissender und Wahrheitss­ucher. Der verrät zwar nicht, woraus der Romantitel diesmal stammt (es ist wieder: »Macbeth«), aber er setzt Juan auf die (wahre oder unwahre?) Spur des Edward de Vere, siebzehnte­r Earl of Oxford, der der wahre Verfasser des Shakespear­e-Werkes gewesen sein soll. Womit der Leser wiederum in das verflixte komödianti­sche Verwirrspi­el des Javier Marías einbezogen wird.

Es ist ein raffiniert­es Geflecht menschlich­en Handelns und Seins, das uns der Autor noch anspruchsv­oller als in seinem Weltbestse­ller »Mein Herz so weiß« zu enträtseln aufgibt. Ein Buch der Zweideutig­keiten und Gegensätze, das von Wahrheit und Lüge, Bindung und Abneigung, Grobheit und Zärtlichke­it, Lebensgier und Todessehns­ucht erzählt, schockiere­nd und fesselnd zugleich.

Javier Marías: So fängt das Schlimme an. Roman. A. d. Span. v. Susanne Lange. S. Fischer Verlag. 639 S., geb., 24,99 €.

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