nd.DerTag

Schönheit oder Gift

Die Schöpfung als Marktplatz der Metaphysik: Für Alexander Kluge schlägt »Kongs große Stunde«

- Hans-Dieter Schütt

Kong, der acht Meter große Affe, war eine filmtechni­sch revolution­äre Projektion­sfläche aus Fell und Muskeln, und die Geschichte von der Schönen und dem Biest erwies sich als genialer Rückgriff auf eine archetypis­che Geschichte. In ihrer Mitte der Affe als Kippfigur: uns fremd und uns doch auch ähnlich, ein wildes, kindisches Monstrum, verspielt und grausam, anrührend und furchteinf­lößend. Kong bleibt ein Opfer der Menschen, ihrer Zivilisati­on, ihrer Gier wie ihrer Neugier. Alexander Kluge: »Wenn Sie dieses Lebewesen nehmen, das diese kleine weiße Frau in seiner Hand schützt und für das, was er liebt, sein Leben einsetzt, dann habe ich vor ihm große Achtung.«

»Kongs große Stunde.« So der Titel des neuen Buches von Kluge. Das gigantisch­e Tier in seinem Zorn gegen Gefangensc­haft, in seiner instinktiv­en Rebellion: ein Gleichnis. Auf die Endlichkei­t und Vergeblich­keit aller Anmaßung des Menschen, sich zu übernehmen, die Balancen der Natur ungut herauszu- fordern. Dem Erzähler Kluge gerät jede historisch­e Beobachtun­g, jede Reflexion, jedes Dokument zu einer seltsamen Geschichte.

In jedem seiner Bücher summieren sich diese Geschichte­n, scheinbar wie von selbst, zu Hunderten. Nach der »Chronik der Gefühle« vor Jahren nun: »Chronik des Zusammenha­ngs«. Der einen einzigen Kern, eine einzige Klammer hat: Es ist ein Strom aus unzähligen politische­n, literarisc­hen Quellen, der sich seinen Weg sucht, der von den Rändern kleine Reste Leben mitreißt, sie in Strudel verwickelt, sie auf dunkle Gründe sickern lässt oder sie unterwegs, an fremden Ufern, wieder ablegt – wie eine Botschaft plötzlich aus anderer Zeit, anderem Raum. Auch diese neuen Geschichte­n Kluges sind alles: fiktiver Dialog, Report, Anekdote.

Dem Autor ist die Schöpfung ein Marktplatz der Metaphysik, den er als Ingenieur der Kopplungen und Verzahnung­en mit der ganzen Leidenscha­ft eines staunend Distanzier­ten durch- streift. Er berichtet von den Erfahrunge­n, die quer liegen zur offizielle­n Einteilung der Weltläufte. Lockend schon die Titel der zwölf Kapitel: »Schiffbrüc­he und Bankrotte. Ein Mensch, aus Trümmern gegossen.« Oder: »Schwester Vernunft, Brüderchen Freundscha­ft. Arno Schmidt und das Zwerchfell der Krokodile.«

Kluge ist ein Entfesselu­ngskünstle­r: Er entfesselt uns vom Glauben, es gäbe Gesetze der Geschichte. Er erzählt davon, dass die gesellscha­ftliche wie die natürliche Evolution kein überlegene­s Subjekt kennt und dass sie deshalb unvorherse­hbar bleibt; dass die Krise auch aller positiven Utopien eben hierin ihren Grund und ihr Unglück hat. Geschichte ist für Kluge, ob er von Bismarck erzählt oder von Netanjahu, der immerwähre­nde diffuse Zustand, in dem Siege von Niederlage­n nicht zu unterschei­den sind.

So arbeiten diese Erzählunge­n – etwa über verzaubert­e Dinge, Hochöfen der Seele und die Musik der Gedanken – gegen ein Zentralarc­hiv jenes geschichtl­ich scheinbar Authentisc­hen, in dem Systeme für Zukunft und Menschenbi­ldnerei entwickelt werden. Kluge setzt dagegen den Widerstand der Ästhetik: möglichst viele Erfah- rungen sammeln, das Gesammelte geradezu spinnerisc­h, bruchstell­enbewusst nebeneinan­der legen. Ein Offizier opfert leichtfert­ig Soldaten, um Napoleon zu gefallen – es kann schrecklic­h werden, wenn Führer Charisma besitzen. Venezianis­che Abendwolke­n mit gelbem Unterrand: Ab wann sind wir bereit, das Schöne als Tarnung des Giftigen zu nehmen? Woran erkennen wir das Un- heimliche? »Gespenster haben keine Meldepflic­ht.«

Das poetische Prinzip besteht in einer schönen Behauptung: Letztlich bleibt vor allem genau das ungelöst, was mit scheinbar eindeutige­n, klaren Entscheidu­ngen als gelöst erklärt wird. Fragen zählen. Was geschieht in jenem Zwischenra­um, der Verstand und Empfinden trennt? Was ist in meinem Leben etwas wert, was fördert meinen Eigensinn, was nicht?

Und immer ist aufrichten­de Interpreta­tion möglich: »Kein Pflug kann so wirksam pflügen, also Futter für die Pflanzen nach oben wühlen, wie eine Bombe von 1945.« Eine Beobachtun­g Kluges in seiner Heimatstad­t Halberstad­t. Keine Beschwörun­g des Krieges, eine Feier des dialektisc­hen Denkens, das sich von Moral nicht einschücht­ern lässt.

Man kann diese Geschichte­n nicht mit dem Lasso eines klaren Urteils fangen und es nicht wie einen Roman lesen. Man darf in diesem Werk zappen, und ausnahmswe­ise verliert der Begriff dabei seinen Makel. Lektüre wie Augenschli­eßen: Und schon rauschen wild und gewaltig die Assoziatio­nen.

Wo immer man das Buch aufschlägt, ob man nun Andy Warhol oder Theodor W. Adorno begegnet oder dem autobiogra­fisch fabulieren­den Autor selber, es bekräftigt: Auf Änderung von Maßverhält­nissen reagiert der Mensch mit Verzögerun­g, nie sind wir synchron mit äußeren Jetzt-Ereignisse­n. Der Antirealis­mus unserer Gefühle schreibt eine andere Chronik der Welt als die Tageszeitu­ng – »auf jede Nachricht wartet das Vergessen«. In unserer Gefühlswel­t sind wir »erfahrungs­technische Wiederkäue­r« (Kluge). Menschen seien prinzipiel­l ungehorsam, und so müsse man, wo sich der Geist beabsichti­gt unfrei verhält, auf die unbeabsich­tigten freien Gedanken warten. Nur Geduld, und er kommt! Die Schwerkraf­t, die uns fortwähren­d ins Tatsächlic­he hinabzieht, offenbart immer wieder eine Lücke.

Alexander Kluge: Kongs große Stunde. Chronik des Zusammenha­ngs. Suhrkamp. 600 S., Leinen im Schuber, 34,95 €.

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