Schönheit oder Gift
Die Schöpfung als Marktplatz der Metaphysik: Für Alexander Kluge schlägt »Kongs große Stunde«
Kong, der acht Meter große Affe, war eine filmtechnisch revolutionäre Projektionsfläche aus Fell und Muskeln, und die Geschichte von der Schönen und dem Biest erwies sich als genialer Rückgriff auf eine archetypische Geschichte. In ihrer Mitte der Affe als Kippfigur: uns fremd und uns doch auch ähnlich, ein wildes, kindisches Monstrum, verspielt und grausam, anrührend und furchteinflößend. Kong bleibt ein Opfer der Menschen, ihrer Zivilisation, ihrer Gier wie ihrer Neugier. Alexander Kluge: »Wenn Sie dieses Lebewesen nehmen, das diese kleine weiße Frau in seiner Hand schützt und für das, was er liebt, sein Leben einsetzt, dann habe ich vor ihm große Achtung.«
»Kongs große Stunde.« So der Titel des neuen Buches von Kluge. Das gigantische Tier in seinem Zorn gegen Gefangenschaft, in seiner instinktiven Rebellion: ein Gleichnis. Auf die Endlichkeit und Vergeblichkeit aller Anmaßung des Menschen, sich zu übernehmen, die Balancen der Natur ungut herauszu- fordern. Dem Erzähler Kluge gerät jede historische Beobachtung, jede Reflexion, jedes Dokument zu einer seltsamen Geschichte.
In jedem seiner Bücher summieren sich diese Geschichten, scheinbar wie von selbst, zu Hunderten. Nach der »Chronik der Gefühle« vor Jahren nun: »Chronik des Zusammenhangs«. Der einen einzigen Kern, eine einzige Klammer hat: Es ist ein Strom aus unzähligen politischen, literarischen Quellen, der sich seinen Weg sucht, der von den Rändern kleine Reste Leben mitreißt, sie in Strudel verwickelt, sie auf dunkle Gründe sickern lässt oder sie unterwegs, an fremden Ufern, wieder ablegt – wie eine Botschaft plötzlich aus anderer Zeit, anderem Raum. Auch diese neuen Geschichten Kluges sind alles: fiktiver Dialog, Report, Anekdote.
Dem Autor ist die Schöpfung ein Marktplatz der Metaphysik, den er als Ingenieur der Kopplungen und Verzahnungen mit der ganzen Leidenschaft eines staunend Distanzierten durch- streift. Er berichtet von den Erfahrungen, die quer liegen zur offiziellen Einteilung der Weltläufte. Lockend schon die Titel der zwölf Kapitel: »Schiffbrüche und Bankrotte. Ein Mensch, aus Trümmern gegossen.« Oder: »Schwester Vernunft, Brüderchen Freundschaft. Arno Schmidt und das Zwerchfell der Krokodile.«
Kluge ist ein Entfesselungskünstler: Er entfesselt uns vom Glauben, es gäbe Gesetze der Geschichte. Er erzählt davon, dass die gesellschaftliche wie die natürliche Evolution kein überlegenes Subjekt kennt und dass sie deshalb unvorhersehbar bleibt; dass die Krise auch aller positiven Utopien eben hierin ihren Grund und ihr Unglück hat. Geschichte ist für Kluge, ob er von Bismarck erzählt oder von Netanjahu, der immerwährende diffuse Zustand, in dem Siege von Niederlagen nicht zu unterscheiden sind.
So arbeiten diese Erzählungen – etwa über verzauberte Dinge, Hochöfen der Seele und die Musik der Gedanken – gegen ein Zentralarchiv jenes geschichtlich scheinbar Authentischen, in dem Systeme für Zukunft und Menschenbildnerei entwickelt werden. Kluge setzt dagegen den Widerstand der Ästhetik: möglichst viele Erfah- rungen sammeln, das Gesammelte geradezu spinnerisch, bruchstellenbewusst nebeneinander legen. Ein Offizier opfert leichtfertig Soldaten, um Napoleon zu gefallen – es kann schrecklich werden, wenn Führer Charisma besitzen. Venezianische Abendwolken mit gelbem Unterrand: Ab wann sind wir bereit, das Schöne als Tarnung des Giftigen zu nehmen? Woran erkennen wir das Un- heimliche? »Gespenster haben keine Meldepflicht.«
Das poetische Prinzip besteht in einer schönen Behauptung: Letztlich bleibt vor allem genau das ungelöst, was mit scheinbar eindeutigen, klaren Entscheidungen als gelöst erklärt wird. Fragen zählen. Was geschieht in jenem Zwischenraum, der Verstand und Empfinden trennt? Was ist in meinem Leben etwas wert, was fördert meinen Eigensinn, was nicht?
Und immer ist aufrichtende Interpretation möglich: »Kein Pflug kann so wirksam pflügen, also Futter für die Pflanzen nach oben wühlen, wie eine Bombe von 1945.« Eine Beobachtung Kluges in seiner Heimatstadt Halberstadt. Keine Beschwörung des Krieges, eine Feier des dialektischen Denkens, das sich von Moral nicht einschüchtern lässt.
Man kann diese Geschichten nicht mit dem Lasso eines klaren Urteils fangen und es nicht wie einen Roman lesen. Man darf in diesem Werk zappen, und ausnahmsweise verliert der Begriff dabei seinen Makel. Lektüre wie Augenschließen: Und schon rauschen wild und gewaltig die Assoziationen.
Wo immer man das Buch aufschlägt, ob man nun Andy Warhol oder Theodor W. Adorno begegnet oder dem autobiografisch fabulierenden Autor selber, es bekräftigt: Auf Änderung von Maßverhältnissen reagiert der Mensch mit Verzögerung, nie sind wir synchron mit äußeren Jetzt-Ereignissen. Der Antirealismus unserer Gefühle schreibt eine andere Chronik der Welt als die Tageszeitung – »auf jede Nachricht wartet das Vergessen«. In unserer Gefühlswelt sind wir »erfahrungstechnische Wiederkäuer« (Kluge). Menschen seien prinzipiell ungehorsam, und so müsse man, wo sich der Geist beabsichtigt unfrei verhält, auf die unbeabsichtigten freien Gedanken warten. Nur Geduld, und er kommt! Die Schwerkraft, die uns fortwährend ins Tatsächliche hinabzieht, offenbart immer wieder eine Lücke.
Alexander Kluge: Kongs große Stunde. Chronik des Zusammenhangs. Suhrkamp. 600 S., Leinen im Schuber, 34,95 €.