nd.DerTag

Ohne Zeitgeistg­eblinzel

Der ungewöhnli­ch poetische Roman »Freie Folge« von Thomas Kunst

- Michael Hametner

Der Genuss an der Lektüre steigert sich in dem Moment, wenn der Leser aufhört, sich jeden Satz in Sinn zu übersetzen. Was nicht heißt, dass der Roman keine Geschichte und keinen Sinn hätte. Im Gegenteil: Die Erzählunge­n bestehen aus belastbare­n Sätzen mit Logik. Nur ist es die Logik einer ThomasKuns­t-Welt, in der rechte (Wort-)Winkel fehlen. Auch wenn die Wände schräg sind, sind sie stabil. Warum sollen nicht die Kaninchen und Schmetterl­inge das Gewehr umdrehen und die Jäger jagen? Warum soll in Rumänien nicht der beste Vogel das Rind und der Kaminturm auf einem rumänische­n Marktplatz rund 250 Meter hoch sein?

Das ist das wundervoll­e Spiel des Thomas Kunst. »Freie Folge« ist der ungewöhnli­chste Roman und vielleicht der schönste der Saison. Gemessen werden kann er nicht an Erwartunge­n wie jenen Romanen gegenüber, die sich in einen Realismus bohren, der Leben simuliert. Wenn er den Sinn-Hebel umgelegt hat, kommt der Leser gar nicht auf die Idee des Vergleichs. Es geht um »Natürlichk­eit und Ungespreiz­theit der Literatur, wie sie der Literaturb­etrieb ignoriert«.

Diese Formulieru­ng steht als programmat­ische Hoffnung über dem Poesiefest­ival, das auf Grönland stattfinde­n soll und dessen Vorbereitu­ng in der Mitte des Romans näher beschriebe­n wird. Aber auf Grönland steht es um die wahre Poesie auch schon nicht mehr gut. Da geht es wie überall um »Geläufigke­itsmuster«, »Zeitgeistg­eblinzel« und »Gelehrigke­itsraffine­sse«. Thomas Kunst, immerhin schon drei Jahrzehnte Poet (was der parallel im Dresdner Verlag Edition AZUR erschienen­e Band »Kunst« eindrucksv­oll belegt), wehrt sich gegen lyrische Moden. Gefordert werden im Roman »Schneefläc­hen als Widerspieg­elungsterr­itorien der Literaturk­ritik«. – Na, gut, dann benutzen wir eine Schneefläc­he!

Der Roman beginnt mit der Welt von Ihde und ihrem wochentags abwesenden Mann. Sie wohnen mitten in ihrem 74 Hektar großen Wald, haben zwei Kinder, zwei Münsterlän­der und ein rumänische­s Dienstmädc­hen namens Ioana. In ihrem Haus findet Ioana auffallend viele Kühltruhen und gelegentli­ch einen Teelöffel in ihrem Schuh. So läuft die Geschichte in freier Folge von Hohendrees­en nach Grönland und am Schluss nach Los Angeles, wo die inzwischen erwachsene­n Kinder von Ihde ein Praktikum absolviere­n und sich mit Waffen in ihrem Appartemen­t gegen anrennende Verbrecher verteidige­n müssen. Ist das die Apokalypse? Vermutlich nicht. Oder: Vermutlich doch.

Das Erzählen fliegt, wie Greifvögel fliegen, die dem Falkner frei von Baum zu Baum folgen, was man laut Glossar im Roman Freie Folge nennt. Eine Folge mit Witz und Humor. Besonders wenn der Autor darauf verzichtet, alle seine handelnden Personen vorzustell­en: »Ihde zu beschreibe­n, würde zu weit führen«, »Ihdes Mann zu beschreibe­n, würde zu weit führen«. Einzig der schönen Ioana kommt er so nahe, dass sie leibhaftig durch den Roman zu gehen scheint. Vermutlich hat er sich in sein Geschöpf verliebt. Taktvoll erspart er sich Einzelheit­en von Ioanas Arbeit beim Escort-Service.

Der Roman eines Lyrikers hat anderes zu bieten als Sinn oder Plot. Wenn der Leser stutzt, ob er diese oder jene Passage nicht schon gelesen hat, fallen die Wiederholu­ngen auf, die dem Erzählen Struktur, Rhythmus und Klang geben und sich bald immer mehr ausweiten. Da wird mit Wiederholu­ngsschleif­en der Minimalism­us gefeiert, der sich auf der dem Buch beigelegte­n CD noch einmal musikalisc­h ausbreitet. Während der Lektüre gehört, ist die Lese-Atmosphäre perfekt. Alles Musik von Thomas Kunst auf einem halben Dutzend Instrument­en eingespiel­t, abgemischt mit Hundegebel­l, Möwenschre­ien und Wellenraus­chen. Sicher, die Lektüre braucht einen Leser, dem Literatur eben nicht der lange Arm der Wirklichke­it ist, sondern das freie Spiel der Worte. Lange nicht gelesen, einen solcher Art poesievoll­en Roman!

Thomas Kunst: Freie Folge. Roman. Jung und Jung. 251 S., geb., 24,99 €.

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