Grenzen überwinden
Ilija Trojanow lässt Literaten aus aller Welt vom Wandern schwärmen
Nein, treffender als mit Henry David Thoreau lässt sich die Trostlosigkeit der entfremdeten Arbeitswelt wirklich nicht in Worte fassen. Wenn er sich Menschen anschaue, schrieb er 1862 in seinem Essay »Vom Spazieren«, »die sich Wochen und Monate, ja ganze Jahre von früh bis spät in Büros und Werkstätten einschließen«, dann empfinde er, »diesen Menschen gebühre eine gewisse Anerkennung, weil sie ihrem Leben schon längst ein Ende gemacht haben«.
Was der entschleunigte Schriftsteller damals nicht wissen konnte: Es geht noch viel schlimmer. Denn wenn der postfordistische Mensch heute nicht gerade fremdbestimmt irgendwo sitzend vor sich hin werkelt, dann spurtet er geradezu von Ort zu Ort, auf dass er sich schnell anderswo weiter selbst optimieren kann.
Die Zeiten sind dem ausgiebigen Räsonnement ausnehmend feindlich gesinnt. Da widerspricht es schon völlig dem Zeitgeist, wenn der Literat Ilija Trojanow nun mit »Durch Welt und Wiese« ein Buch vorlegt, das dem »Reisen zu Fuß« huldigt und selbiges zur idealen Möglichkeit adelt, »sich seiner Existenz immer wieder zu vergewissern«. In seiner Einleitung schreibt der Autor des Romans »Der Weltensammler« vehement gegen die omnipräsente Hektik an. Schließlich deute alles darauf hin, »dass sich die Gedanken beim Gehen williger verfertigen«. Gedankenschritte avancieren so zur intensiven Welt-Anschauung.
Trojanow muss es wissen: Seine ersten Erfahrungen in dieser Disziplin waren weder vergnüglich, noch dienten sie der Selbsterkenntnis. Er entstammt einer bulgarischen Familie, die in den 70er Jahren über Jugoslawien und Italien nach Deutschland floh. In seiner Hinführung schildert er auch dieses Kapitel seines Lebens: »Ein Pfad durch einen Wald, nächtliche Stille, ein Fluss, der sich vor uns auftut, mein Vater nimmt mich huckepack, watet auf die andere Seite. Die unvertraute Anspannung der Eltern, koloriert mit kindlichem Übermut. Das war mein erster Fußmarsch.«
Wer zu Fuß unterwegs ist, muss Grenzen überwinden. Mit diesem Grundgedanken hat Herausgeber Trojanow seine Ruhmeshalle wunderbarer Wanderdichtung zusammengestellt. Nicht nur Thoreau fügt sich da mit seiner zornigen Sicht ein: »Wo ist das Volk, das mit dem Verbrennen der Zäune beginnt und den Wald stehen lässt?« Auch in den anderen mitreißenden und von Susann Urban vorzüglich übersetzten Texten scheint es auf, dieses trotzige Plädoyer für den gemächlichen Gang.
Ob Charles Dickens’ »Nächtliche Streifzüge«, Jack Londons imposante »Feuer im Schnee«-Story, W.G. Sebalds »Ringe des Saturn« oder Auszüge aus Jack Kerouacs großem Roman »Gammler, Zen und hohe Berge«: Trojanow möchte zeigen, wie sich durch Wanderschaften »dem kontaminierten Einfluss der Zivilisation entkommen« lässt – und welchen Irritationen träumend Schweifende sich ausgesetzt sehen. Aldous Huxley und Ray Bradbury berichten, wie sie in Los Angeles von der Polizei aufgefordert wurden, sich auszuweisen, denn in den USA gelte: »Irgendetwas stimmt nicht mit einem Menschen, der zu Fuß geht, anstatt mit dem Auto zu fahren.«
Ähnliches erlebte auch Franz Hessel, der schreibt: »Ich bekomme immer misstrauische Blicke ab, wenn ich versuche, zwischen den Geschäftigen zu flanieren.« Zum Glück ließen sich schon Künstler wie Robert Louis Stevenson und Edgar Allan Poe dadurch nicht daran hindern, die »rasch Vorübergehenden« zu beobachten und mit den geduldigen Lesern ihre Erkenntnisse zu teilen über diese eilige Welt, in der gerade in Großstädten das Gehen als Plackerei erscheint, die nur dann sozial erwünscht ist, wenn es überhaupt nicht mehr anders geht.
Leidenschaftliche Flaneure und Wanderer sind dagegen Menschen, die den kreativen Müßiggang gegen den rasenden Stillstand des ewig sich wiederholenden Alltagstrotts sachten Schrittes verteidigen – und damit den schwer erträglichen Seiten der Gegenwart ent-gehen.
Ilija Trojanow und Susann Urban: Durch Welt und Wiese oder Reisen zu Fuß. Die Andere Bibliothek. 360 S., geb., 42 €.