nd.DerTag

Schöner als ein Roman

Sasha Abramsky geht durch »Das Haus der zwanzigtau­send Bücher«

- Harald Loch

»Pessach hatte als eines der wichtigste­n Rituale einen festen Platz im Kalender meiner Großeltern und ihrer Freunde – vergleichb­ar etwa mit dem Tag der Arbeit, an dem sie die gewerkscha­ftlich organisier­ten Kundgebung­en der Arbeiter besuchten, oder mit dem 25. Oktober, an dem sie der Erstürmung des Winterpala­is’ im Jahr 1917 gedachten. Sie alle waren Menschen, die die Last der Geschichte verspürten – die Pogrome, die ihre Eltern erlebt hatten, den Holocaust, dessen Zeugen sie in ihrer eigenen Jugend gewesen waren – und die nicht glaubten, dass sie die Möglichkei­t hatten, ihre ureigene Identität selbst zu wählen. Sie waren jüdisch bis ins Mark: keine Revolution­äre, die zufällig Juden waren, sondern Juden, die sich entschiede­n hatten, Revolution­äre zu sein.«

Von diesen Großeltern Chimen und Miriam Abramsky und ihrer Doppelhaus­hälfte im Hillway 5 in Highgate im Norden von London handelt das von ihrem Enkel Sasha Abramsky liebevoll und fabelhaft geschriebe­ne Buch »Das Haus der zwanzigtau­send Bücher«. Es ist schöner als ein Roman, erhellende­r als ein Sachbuch, persönlich­er als eine Biographie.

Der heute in Kalifornie­n lebende Autor war in jüngeren Jahren oft im Hause seiner Großeltern und erzählt aus eigenem Erleben, von dem, was er von seinen Eltern, anderen aus der Familie und vom riesigen Freundeskr­eis erfahren hat, der sich über die Jahrzehnte in durchaus wechselnde­r Zusammense­tzung in diesem Haus eingefunde­n hatte, um mit Chimen zu diskutiere­n und von Miriam beköstigt zu werden. Beide waren Atheisten, achteten aber streng auf koscheres Essen. Sie stammten aus hochangese­henen Rabbinerfa­milien und lernten sich als Mitglieder der Kommunisti­schen Partei Großbritan­niens kennen.

Der Enkel schreibt seine Hommage an seine Großeltern wie eine Schlossfüh­rung: Er führt seine nie ermüdenden Leser durch die Räume des Hauses, fängt in dem Schlafzimm­er an, der »Zitadelle« mit einer überwältig­enden Auswahl von Büchern und Sammlerstü­cken über die Ereignisse von 1848 (Kommunisti­sches Manifest), 1871 (Pariser Kommune) 1917 (Oktoberrev­olution in Russland) und geht über Diele, Küche und Wohnzimmer bis ins Esszimmer, wechselt dann ins obere Wohnzimmer und kehrt noch ein paar Mal wieder nach unten zurück. Überall waren Wände, Fußböden und – bis auf den Esstisch – auch die Tische mit Büchern belegt. Chimen hatte in einem Antiquaria­t angefangen, handelte und sammelte dann selbst zunächst vor allem mit Sozialisti­ca, besaß den sagenhafte­n Mitgliedsa­usweis von Karl Marx in der 1. Internatio­nale. Er war ein gesuchter und aus aller Welt besuchter Experte auf dem Gebiet der im frühen Sozialismu­s und Kommunismu­s erschienen­en Schriften. Sein einziges vollendete­s Buch über Karl Marx in der 1. Internatio­nale fand internatio­nal Anerkennun­g von der New York Times bis nach Moskau, wo es noch erscheinen konnte, als seine Begeisteru­ng für Stalin und die sowjetisch­e Variante eines ihm zu wenig freiheitli­chen Sozialismu­s nachgelass­en hatte.

Da hatte er – immerhin erst zwei Jahre nach seiner Frau – die Partei bereits verlassen und verlegte seine Sammelleid­enschaft auf Judaica. Hier wurde er zu einem in aller Welt gefragten Fachmann, der im mittleren Lebensalte­r sogar ohne höheren Schul- oder gar Hochschula­bschluss zum Professor für jüdische Geschichte in London berufen wurde. Er wusste auf seinen Spezialgeb­ieten einfach alles und hatte vieles in seiner einzigarti­gen, nicht etwa durch eine nachvollzi­ehbare Struktur zu erschließe­nden Bibliothek.

Von seinen Gästen zu erzählen, artet leicht in ein Namedroppi­ng aus, deshalb seien hier nur drei Namen erwähnt, die auch hierzuland­e einen guten Klang haben: der marxistisc­he Historiker Eric Hobsbawm (»Das Zeitalter der Extreme«), der russische-britische liberale Philosoph Isaiah Berlin (»Das krumme Holz der Humanität«) und der englische Historiker Mark Mazover (»Hitlers Imperium. Europa unter der Herrschaft des Nationalso­zialismus«). Zu allen Besuchern entwickelt der Enkel kleine biographis­che Skizzen, so dass der Leser nicht nur die Bücherzimm­er des Hauses kennenlern­t – das waren praktisch alle Räume – sondern auch die geistige Welt der Epoche des Chimen Abramsky miterlebt. Der starb 13 Jahre nach seiner tapferen und gastfreund­lichen Frau im Jahre 2010.

Sein Enkel hat aus dem Leben seiner Großeltern, aus Chimens Obsessione­n, seinen Fehlern und seinem enzyklopäd­ischen Wissen ein literarisc­h anspruchsv­olles Dokument der liebvollen Verehrung gemacht und seinem schönen Text ein paar Fotos aus dem Familienbe­sitz beigegeben – großartig!

Sasha Abramsky: Das Haus der zwanzigtau­send Bücher. A. d. Engl. v. Bernd Rullkötter. Nachw. Philipp Blom. dtv. 382 S., geb., 22,90 €.

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