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Der Schauplatz dieses grandiosen Romans war bis zu der Pariser Friedensordnung nach dem Ersten Weltkrieg eine deutsche Kolonie: der Nordosten der Insel Neuguinea. Der Völkerbund wies das kaum erforschte Gebiet dann Australien als Treuhänder zu. In Neuguinea setzte sich das »Zeitalter der Entdeckungen« fort. Nachdem es fast keine verborgenen Territorien auf der Erde mehr gab, waren es kleine, von der Zivilisation unberührte Völker, die eine neue Gruppe von Wissenschaftlern antrieben: nicht mehr die kühnen Seefahrer oder die Afrikaforscher, sondern Anthropologen und Ethnologen, die sich aufmachten, Menschen, Sprachen, Sitten und Kulturen zu erforschen.
Eine der berühmtesten von ihnen war Margaret Mead, die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Samoa Inseln und vor allem Neuguinea erkundete. Von ihr ließ sich die 1962 geborene amerikanische Autorin Lily King zu ihrem halbfiktionalen Roman »Euphoria« inspirieren.
Entstanden ist ein literarisches Kunstwerk, das eine Dreiecksbeziehung virtuos mit anthropologischen Erkenntnissen und den Abenteuern ethnologischer Feldforschung verknüpft. Die amerikanische Forscherin Nell Stone und ihr australischer Mann Fen sind im Be- reich des Flusses Sepik in Neuguinea unterwegs. Der ist länger als der Rhein; die deutschen Kolonisatoren hatten ihn »Kaiserin-Augusta-Fluss« genannt. An seinen mäandernden Ufern siedeln zahlreiche Volksstämme, die eigene, sehr unterschiedliche Sprachen und Kulturen haben. Sie zogen Wissenschaftler an, die unter extremen Bedingungen oft lebensgefährliche, meist jahrelange Forschungen betrieben.
Nell und Fen hatten, als die Handlung des Romans einsetzt, längere Zeit bei einem als besonders aggressiv geltenden Stamm gearbeitet, als sie mit dem ebenfalls am Sepik arbeitenden britischen Forscher Andrew Bankson zusammentrafen, der an seiner Einsamkeit litt. Als sie gemeinsam im Gebiet des Volkes der Tam am Chambrisee forschten, erlagen sie zu dritt einer Faszination, die von ihren Persönlichkeiten, aber auch von ihren Forschungen und ihren Reflexionen über den Sinn ihrer Arbeit ausging.
Lily King erzählt aus der IchPerspektive von Andrew. Manches wird einem auktorialen Erzähler anvertraut, zuweilen unterbrochen von Tagebucheintragungen der gebildeten und fleißigen Nell Stone. Die Persönlichkeiten der drei Protagonisten wachsen sehr plastisch aus dem exotischen Hintergrund. Die Menschen, denen sie am Sepik begegnen, gewinnen an Profil und eigener Würde. Dadurch entsteht ein abwechslungsreicher, literarisch glänzend inszenierter Text.
Selten verbinden sich erotische Momente mit genau beobachteten Ergebnissen von Feldforschung und poetischen Landschaftsskizzen so glücklich zu einem Roman. Stilistische Eleganz und kompositorische Raffinesse kennzeichnen das Buch. Die titelgebenden euphorischen Momente kommen darin als Sternstunden vor: beim Aufblitzen von Verliebtheit oder auch wenn bei den Forschern sozusagen der Knoten platzt und sie etwas von den fremden Kulturen zu verstehen glauben. Nell erinnert sich sogar an ihre Kindheit, als sie beim Spielen mit Nachbarskindern dieses überschwängliche Gefühl der »Euphoria« erlebt hat. Und auch der Leser spürt dieses Glück, weil dieses wunderbare Buch intellektuell wie literarisch so anregend ist.
Lily King: Euphoria. Roman. A. d. Engl. v. Sabine Roth. C. H. Beck. 262 S., geb., 19,95 €.