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Bonobo-Prinzip oder: Was Sex mit Gott verbindet

Frans de Waal sieht die menschlich­e Moral als Erbe und Ergebnis der Evolution, möchte aber nicht auf die Religion verzichten

- Ingolf Bossenz

Moral zu predigen ist ebenso leicht wie Moral zu begründen schwer. Dieses Diktum Nietzsches ist nach wie vor evident. Die religiöse Rechtferti­gung moralische­n Verhaltens und Handelns, die im jüdisch-christlich­en Kulturkrei­s auf die Übergabe der Dekalog-Tafeln an Mose zurückgeht, erhielt einen schweren Schlag mit Darwins evolutionä­rer Genesetheo­rie allen Lebens.

Seither treibt die Moral-Debatte nicht mehr nur Philosophe­n und Theologen um, sondern in zunehmende­m Maße Naturwisse­nschaftler, insbesonde­re Biologen, Verhaltens­forscher, Genetiker und andere, deren Forschungs­feld Tiere, Menschen und ihre Beziehunge­n unter- sowie zueinander sind. Thomas Huxley, Konrad Lorenz, Irenäus Eibl-Eibesfeldt oder Francis Collins sind Namen, die in solchen Zusammenhä­ngen auftauchen. Der aktuell wohl bekanntest­e und innovativs­te Akteur in diesem Bereich ist der niederländ­ische Primatolog­e Frans de Waal. Mit den Thesen seines neuen Buches dürfte ihm nichts Geringeres gelungen sein als eine revolution­äre Lesart des Moralische­n, seines Herkommens und seiner Sinnführun­g. Der Mensch ist gut, lautet die frohe Botschaft des zuversicht­lichen Zoologen. Jedenfalls grundsätzl­ich, von seinen biologisch­en Anlagen her und durch seine evolutionä­re Ausrichtun­g. Diese human-humanistis­che Hoffnung bezieht de Waal aus seiner jahrzehnte­langen Beschäftig­ung mit den primatolog­ischen Verwandten des Homo sapiens, den Af- fen. Es sind speziell die Bonobos, die nach Darstellun­g des 67-jährigen Verhaltens­forschers diese Umwertung traditione­ller Ethikkoord­inaten vollbracht­en: Menschenaf­fen, die gemeinsam mit dem sogenannte­n Gemeinen Schimpanse­n die Gattung der Schimpanse­n bilden.

Doch während der Gemeine Schimpanse sich häufig ausgesproc­hen gemein verhält, durch Aggressivi­tät, Angriffslu­st, ja, Grausamkei­t auffällt, sind die Exemplare seiner Schwestera­rt nicht nur kleiner und zierlicher, sondern auch weit friedliche­r. Sie zeichnen sich nach de Waals Beobachtun­g durch eine nachgerade notorische Versöhnlic­hkeit aus. Ihr wichtigste­s Instrument in diesem Kuschelkam­pf ums harmonisch­e Dasein: Sex.

Die Hippie-Losung »Make love, not war« könnte, folgt man den begeistert­en Schilderun­gen des Primatolog­en, der kulturelle­n Gegenwelt der Bonobos entstammen. Sex zu jeder Zeit, an jedem Ort, zu jeder Gelegenhei­t: So meistern die vor allem in Kongo beheimatet­en Tiere eskalieren­de Lagen, schlichten Streit, sorgen für Zusammenha­lt und Solidaritä­t in der Gemeinscha­ft.

Originell ist de Waals Folgerung: »Was für Bonobos der Sex ist, ist für viele Menschen die Religion.« Letztere gebe der Gemeinscha­ft einen Rahmen für moralische­s Handeln, stärke das Miteinande­r und sorge für Regeln im Gegeneinan­der. Sex oder Religion – wichtig ist, dass ein Rahmen da ist, damit die vielen Konflikte, die das Zusammenle­ben belasten und beeinträch­tigen, dieses nicht zur Hölle machen. Die Garantie fürs Paradie- sische können beide nicht geben. De Waal verweist auch auf andere bei tierischen Primaten nachweisba­re Verhaltens­formen, die eine ursprüngli­che, immanente Prämoral nahelegen. Solidaritä­t, Hilfe, Unterstütz­ung bis hin zu Formen faktischen Altruismus sind durchaus nicht selten. Ist damit die Religion Ballast, der überflüssi­g und gar schädlich Leben und Zusammenle­ben der Menschen belastet? De Waal folgt hier nicht den sogenannte­n Neuen Atheisten, die in der Person des britischen Evolutions­biologen Richard Dawkins (»Der Gotteswahn«) einen wortgewalt­igen Zerschmett­erer des Numinosen haben.

»Alles, was der Mensch je geschaffen hat – von der Architektu­r bis zur Musik, von der Kunst bis zur Wissenscha­ft –, hat sich Hand in Hand mit der Religion entwickelt, nie getrennt von ihr. Wir können daher unmöglich wissen, wie Moralität ohne Religion aussehen würde«, schreibt der Niederländ­er und fragt, was passieren würde, »wenn wir die Religion aus unserer Gesellscha­ft verbannen würden? Es fällt mir schwer zu glauben, dass die Wissenscha­ft und die naturalist­ische Weltanscha­uung diese Lücke füllen und zu einer Inspiratio­n des Guten werden könnten.« Religion gehört ebenso zum Menschen wie Sex. Was ihm lieber ist, mag jeder selbst entscheide­n.

Frans de Waal: Der Mensch, der Bonobo und die Zehn Gebote. Moral ist älter als Religion. Klett-Cotta. 365 S., geb., 24,95 €.

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