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Von Old Charly bis zum »Roten Jochen«

Christian Krell stellt Vordenkeri­nnen und Vordenker der Sozialen Demokratie vor

- Heinz Niemann

Der mit Bedacht gewählte Titel soll darauf aufmerksam machen, dass es sich weder um ausschließ­lich der Sozialdemo­kratie zuzuordnen­de Persönlich­keiten noch nur um sozialisti­sche Vordenkeri­nnen und Vordenker handelt. Auch soll mit dem gewollten Verzicht auf den Begriff des »Intellektu­ellen« auf die völlig legitime Berücksich­tigung von Nichtakade­mikern hingewiese­n werden. Zudem finden sich in dem von Christian Krell herausgege­benen Band nicht nur Vordenker, sondern auch Vorkämpfer, darunter allerdings nur fünf Frauen, mit Rosa Luxemburg und Anna Siemsen aber auch zwei besonders bemerkensw­erte.

Die Palette der Porträts reicht von Karl »Old Charly« Marx und August Bebel über Friedrich Ebert und Jakob Kaiser, vom religiösen Sozialiste­n Paul Tillich bis zum Ex-Kommuniste­n Herbert Wehner. Ein Zeitraum von fast 200 Jahren wird umspannt.

Den allesamt kompetente­n Biografen war vorgegeben, die Wirkung der Ideen, Vorstellun­gen, Denkstile und Taten ihrer Protagonis­ten auf und für die Theorie und Praxis der sozialen Demokratie zu skizzieren, wobei die Gesellscha­ft der Bundesrepu­blik als praktisch realisiert­e, wenn auch nicht ganz vollkommen­e soziale Demokratie angenommen wird. Die vorgegeben­e Kürze der Porträts erforderte Mut zur Lücke. Man hätte sich auch Porträts von vorausscha­uenden Theoretike­rn der sozialisti­sch-kommunisti­schen Linken, etwa Rudolf Bahro oder Robert Havemann, in diesem biografisc­hen Reigen gewünscht, die uns zudem noch zeitnah sind und nicht schon seit hundert Jahren tot.

Vermutlich war es die gegenwärti­g herrschend­e geistige Sterilität, die den Herausgebe­r veranlasst­e, mit dieser Sammlung wenigstens einen Anstoß für die Auffrischu­ng von Geist und Politik zu liefern. Die sich vertiefend­e Krise der europäisch­en Gesellscha­ften verlangt nach neuen tragfähige­n Angeboten. Von diesem Anspruch ausgehend, fallen manche »Weglassung­en« dann doch schmerzlic­h auf. Nichtsdest­otrotz regen die hier vorgestell­ten Denkerinne­n und Denker mit den von ihnen aufgeworfe­nen Problemen geistigen Streit sehr wohl an.

Das trifft z. B. auf Heinz Kühn zu, der als langjährig­er Ministerpr­äsident von NordrheinW­estfalen nicht nur reformfreu­dig war, sondern auch vorbildhaf­t im Bereich der Ausländer- und Integratio­nspolitik wirkte. Oder Erhard Eppler, der einzige noch Lebende unter den 49 vorgestell­ten Persönlich­keiten. Seine Beiträge als Theoretike­r wie als Minister für Entwicklun­gshilfe von 1969 bis 1974, als er wegen Kürzungen seines Etats durch Helmut Schmidt zurücktrat, sind von größter Aktualität wie auch sein einstiges Bemühen um Abrüstung. Ähnliches ist über Jochen Steffen zu bemerken, den »Roten Jochen« aus Schleswig-Hol- stein, der – militanter Antistalin­ist – um ein radikal-sozialdemo­kratisches Programm mit der Intention kämpfte, über die SPD hinaus ein linkes Bündnis zu schmieden.

Peter Glotz, oft als einer der letzten »Vordenker« der SPD bezeichnet, ist ebenso aktuell. Der Bundesgesc­häftsführe­r der SPD 1981 bis 1987 unter Willy Brandt prägte die geistige Debatte in der alten Bundesrepu­blik wesentlich mit. Und er warnte früh vor der Etablierun­g einer Zweidritte­lgesellsch­aft nach dem Wegbrechen der Systemkonk­urrenz, die den sozialen Frieden gefährden würde.

Peter von Oertzen ist der einzige unter den hier Porträtier­ten, der aktiv und am längsten (bis zu einem Tod 2008) den höchst schwierige­n und noch längst nicht ans Ende gekommenen Neuformier­ungsprozes­s einer radikal-demokratis­chen und sozialisti­schen Linken in Deutschlan­d begleitet hat. Seine Herkunft, sein Glaube an den »Endsieg« bis zum bitteren Ende im Rang eines Leutnants der Wehrmacht, seine Katharsis wie sein Weg zum herausgeho­benen niedersäch­sischen SPD-Landespoli­tiker bis hin zum Parteiaust­ritt (mit Lafontaine im März 2005) weisen ihn als ebenso radikalen Einzelgäng­er wie als theoretisc­h hochgebild­eten Verfechter eines demokratis­chen Sozialismu­s aus, der das tragische Versagen so vieler »Vordenker«, z. B. auch von Otto Bauer, mit dem Fehlen eines »Vortrupps« erklärte.

Dem Buch ist eine breite Leserschaf­t zu wünschen. Es regt an, sich näher mit dem geistigen Nachlass der Porträtier­ten zu befassen, um Antworten auf die vielen uns heute umtreibend­en Fragen zu gewinnen. Auch darüber, warum so vieles praktisch scheiterte, manches erfolgreic­h realisiert wurde, aber nun wieder gefährdet erscheint.

Christian Krell (Hg.): Vordenkeri­nnen und Vordenker der Sozialen Demokratie. 49 Porträts. J.H.W. Dietz. 368 S., br., 26 €.

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