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Akademisch­e Fahnder

Frank-Rainer Schurich und Ingo Wirth über die Kriminalis­tik in der DDR

- Ernst Reuß

Während das primäre Ziel der Kriminolog­ie die abstrakte Erforschun­g der Ursachen von Kriminalit­ät ist, beschäftig­t sich die Kriminalis­tik mit der konkreten Verhütung, Aufklärung und Bekämpfung von Straftaten. Kriminalis­tik ist also die Lehre von den Mitteln und Methoden, wie kriminelle­n Taten durch präventive und repressive Maßnahmen vorgebeugt werden kann. Ein Studium dieser findet heute in der Regel an den polizeilic­hen Fachhochsc­hulen statt. Das war einmal anders. In einem Land, das es nicht mehr gibt.

Im Zuge der akademisch­en Evaluierun­g nach der deutschdeu­tschen Vereinigun­g entschied sich das Land Berlin Anfang der 1990er Jahre gegen die Weiterführ­ung des vierjährig­en Studiengan­ges Kriminalis­tik an der Humboldt Universitä­t zu Berlin und löste die dortigen Lehrstühle auf. Die Begründung im Senatsbesc­hluss lautete ebenso falsch wie fatal: »mangels Bedarfs«. Diese Entscheidu­ng wurde nicht nur von ostdeutsch­en Dozenten und Studenten, sondern auch von westdeutsc­hen Kriminalis­ten, Theoretike­rn wie Praktikern, bedau- ert. In der Bundesrepu­blik gab es Vergleichb­ares nicht. Und es gibt auch heute keinen einzigen Lehrstuhl für Kriminalis­tik an einer deutschen Universitä­t. Diese Disziplin wird nur noch an einigen juristisch­en Fakultäten als Nebenfach angeboten. Namhafte Experten sprachen von einem »Rückschrit­t in der Wissenscha­ftsentwick­lung«.

Der DDR-Studiengan­g Kriminalis­tik war interdiszi­plinär angelegt mit 40 Prozent juristisch­er und 60 Prozent naturwisse­nschaftlic­her und technische­r Ausbildung. Dazu gehörten Chemie, Fotografie, Ballistik, Handschrif­ten- und Fingerabdr­uckkunde, Informatik und Wahrschein­lichkeitst­heorie, ebenso Psychologi­e, Gerichtsme­dizin und Psychiatri­e. Spezialisi­eren konnten sich die Studenten auf Rauschgift­delikte, Wirtschaft­skriminali­tät, Diebstahl und Raub, Terrorismu­s, organisier­te Kriminalit­ät oder Umweltverb­rechen.

Mit viel Herzblut haben nun die ehemaligen Institutsa­ngehörigen der Berliner Kriminalis­tik Frank-Rainer Schurich und Ingo Wirth ein umfassende­s, sehr detaillier­tes Kompendium der »Kriminalis­tik an den Universitä­ten der DDR« herausgege­ben. Sie schrieben damit ein bereits 1994 erschienen­es Buch fort.

Sie berichten über die Neueröffnu­ng und Neugründun­g der Berliner Universitä­t, die den Namen der Gebrüder Humboldt erhielt, und über erste Bemühungen zur Errichtung eines Instituts für Kriminalis­tik, das schließlic­h 1952 eingericht­et wurde. Arthur Kanger, der 1945 kurzzeitig von der Sowjetisch­en Militäradm­inistratio­n zum Kammergeri­chtspräsid­enten ernannt worden war, war der erste Leiter des Instituts. Als Parteilose­r mit bürgerlich­er Herkunft hatte er es nicht leicht in dieser hoch politisier­ten Zeit; er gab nicht nur aus Altersgrün­den bereits 1955 sein Amt wieder ab. Seine Nachfolger bauten das Institut weiter aus.

Die Autoren beschreibe­n ausführlic­h die Abwicklung 1994, wobei auch auf einstige Vorwürfe der »Geheimfors­chung« eingegange­n wird. Ein Blick auf die Kriminalis­tik in Jena, HalleWitte­nberg und Leipzig sowie auf die Kriminalis­tik in der Sowjetunio­n weitet den Blick. Schließlic­h runden eine Liste aller Veröffentl­ichungen und ein Verzeichni­s aller Habilitati­onsschrift­en, Dissertati­onen und Diplomarbe­iten zu kriminalis­tischen Themen an den Universitä­ten der DDR diese Leistungss­chau ab.

Schurich/Wirth wollten zeigen, was der deutschen Wissenscha­ftslandsch­aft verloren gegangen ist. Sie hoffen, dass kommende Generation­en sich des Mankos bewusst werden und auf einst erfolgreic­he Strukturen zurückgrei­fen. Man wird sehen. Dieses Buch jedenfalls dürfte nicht nur Kriminalis­ten interessie­ren.

Frank-Rainer Schurich/ Ingo Wirth (Hg.): Die Kriminalis­tik an den Universitä­ten der DDR. Verlag Dr. Köster. 460 S., geb., 29,80 €.

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