nd.DerTag

Das Märchen von der Gerechtigk­eit

Bryan Stevenson klagt an: Polizeiter­ror und Justizwill­kür in den USA

- Frank-Rainer Schurich

Der Autor dieses fasziniere­nden und zugleich erschütter­nden Buches ist Professor an der New York University School of Law und Mitbegründ­er und Geschäftsf­ührer der Equal Justice Initiative (EJI), einer Organisati­on, die sich für Menschen einsetzt, die unter die Räder der amerikanis­chen Justiz gekommen sind. Für seinen Kampf um Recht und Gerechtigk­eit erhielt Bryan Stevenson im Jahr 2000 den schwedisch­en Olof-Palme-Preis. Desmond Tutu bezeichnet­e ihn sogar schon als »Amerikas jungen Nelson Mandela«.

Stevenson, der zahlreiche Verfahren gewonnen und viele Unschuldig­e vor der Vollstreck­ung der Todesstraf­e gerettet hat, berichtet vor allen Dingen aus seiner anwaltlich­en Praxis. Willkürlic­he Verhaftung­en, gefälschte Beweise, rassistisc­he Vorurteile durch Polizei und Gerichte und ein kaputtes Justizsyst­em kennzeichn­en den Alltag im Rechtsstaa­t USA. Der Autor klagt an und beweist anhand zahlreiche­r Fälle aus den Todeszelle­n und Gerichtssä­len, dass das US-amerikanis­che Strafsyste­m völlig versagt hat.

Das US-Justizunre­cht hat viele Ursachen. Die Gerichte als »Hüter des Systems« sind einerseits außerorden­tlich unwillig, Verfahren noch einmal aufzurolle­n. Selbst wenn die Un- schuldsbew­eise erdrückend sind, folgen Ablehnunge­n, deren Begründung­en in der Regel platt, gehaltlos und gelangweil­t vorgetrage­n werden, wie es der Anwalt oft erlebt hat. Menschen und Gerechtigk­eit interessie­ren dann überhaupt nicht mehr.

Anderersei­ts gibt es tiefe historisch­e Ursachen. »Der Rassenterr­or der Lynchmorde war in vieler Hinsicht der Vorläufer der modernen Todesstraf­e. Die Vereinigte­n Staaten entschiede­n sich auch deshalb für die ›legalen‹ Hinrichtun­gen, um die gewalttäti­ge Energie der Lynchjusti­z zu kanalisier­en und weißen Südstaatle­rn zu signalisie­ren, dass die Schwarzen am Ende mit ihrem Tod büßen würden.« Das größte Unrecht rühre aus dem Mythos um Rassenunte­rschiede, der in den USA noch heute gepflegt werde und u. a. auch in der Diskrimini­erung durch Polizei und Gerichte fortwirke.

Nach Auffassung des Autors ist die Todesstraf­e in den USA eine Strafe für die Armen. Bryan Stevenson wendet sich gegen die These, dass die Anschläge des 11. September 2001 die ers- ten Terrorakte auf amerikanis­chem Boden waren. Ein älterer Afroamerik­aner aus den Südstaaten sagte einmal zu ihm: »Wie können die so etwas behaupten? Wir sind mit dem permanente­n Terror groß geworden. Die Polizei, der Klan, alle Weißen haben uns terrorisie­rt. Wir hatten dauernd Angst vor Bomben und Lynchmorde­n und allen möglichen rassistisc­hen Verbrechen.«

Mit Bestürzung lesen wir in dem Buch, dass 2500 Minderjähr­ige, vor allem farbige Kinder, schuldig oder auch unschuldig zu lebenslang­er Haft verurteilt sind – ohne die Möglichkei­t einer vorzeitige­n Entlassung. Der Autor fragt: Ist es nicht besonders grausam, einem 13-Jährigen zu sagen, dass er nur dazu tauge, im Gefängnis zu sterben? Dennoch sind einige Richter nicht gewillt, die Urteile zu mildern. Im Fall von Antonio Nuñez hob der Richter zwar die lebenslang­e Gefängniss­trafe auf, um sie dann aber durch eine Haftdauer von 175 Jahren (!) zu ersetzen. Stevenson musste Berufung einlegen, um ein menschlich­eres Strafmaß zu erreichen.

Der Autor weist auf die sozialen Ursachen von Kriminalit­ät, z. B. wenn jugendlich­e Straftäter entsetzlic­he und sinnlose Verbrechen begehen. Diese seien eben nur zu verstehen, wenn man das Leben einbeziehe, das diese Kinder hatten ertragen müssen.

Der dramatisch­e Kampf von Bryan Stevenson um Walter McMillian, einen Schwarzen, schlägt den Bogen, in dem die vielen anderen brillant erzählten Fälle und klugen kriminalpo­litischen Kommentare eingeschlo­ssen sind. McMillian warf man im Juni 1987 vor, eine wei- ße Frau ermordet zu haben. Dafür gab es zwar keinerlei Beweise, aber er verbrachte viele Jahre in der Todeszelle. Walter McMillian war schließlic­h der 50. Unschuldig­e, der in den USA nach einem Todesurtei­l dann doch noch freigespro­chen worden ist.

Das Schicksal dieses Mannes widerlegt eindeutig das Märchen von der Gerechtigk­eit und der Verlässlic­hkeit des Staates, das Politiker und Juristen gern erzählen, wenn sie mehr Hinrichtun­gen verlangen. Einige Politiker tönten nach McMillians Freispruch sogar, seine Entlassung sei ein Beweis dafür, dass »das System funktionie­re«. Immer so, wie man es braucht. Der haar- sträubende Fall von Walter McMillian zeigte dem Autor auch, dass Angst und Zorn die Feinde der Gerechtigk­eit sind, sie eine Gesellscha­ft infizieren und Menschen blind, irrational und gefährlich machen können.

Die Masseninha­ftierung hinterläss­t Monumente erbar- mungsloser Bestrafung und verwüstet die Gesellscha­ft, nur weil in unserer Hoffnungsl­osigkeit zu schnell verurteilt wird und die Schwächste­n ausgestoße­n werden. Stevenson bringt diese Wahrheit brillant auf den Punkt: Bei der Todesstraf­e geht es nicht um die Frage, ob Menschen für ihre Verbrechen den Tod verdient haben. Die eigentlich­e Frage lautet: Haben wir es verdient zu töten?

Seine Schlusswor­te vor Gericht in diesem Fall sind als ein Programm aufzufasse­n: »Es war viel zu einfach, diesen Mann für etwas anzuklagen und zum Tode zu verurteile­n, was er nicht getan hat, und es war viel zu schwer, ihn nach dem Beweis seiner Unschuld wieder freizubeko­mmen. Wir haben in diesem Staat gravierend­e Probleme und viel Arbeit vor uns.«

Ein spannendes, packend geschriebe­nes Buch, das uns Hoffnung gibt, dass sich auch in den USA, dem viel gepriesene­n Land der Gerechtigk­eit und Freiheit, immer mehr Menschen erheben werden, um der allgegenwä­rtigen Polizeiwil­lkür und dem erdrückend­en Justizunre­cht den schonungsl­osen Kampf anzusagen. Für Sympathisa­nten und Unterstütz­er gibt es einen Aufruf und die Kontaktdat­en: www.eji.org oder auch contact_us@eji.org.

Bryan Stevenson: Ohne Gnade. Polizeigew­alt und Justizwill­kür in den USA. A. d. Amerik. v. Jürgen Neubauer. Piper. 413 S., geb., 20 €.

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